Das Grün, das unsere Schafe grasen. (Ausschnitt)

21-10-2015 / Marius Schwarz

Eindrücke aus Rotis – einem ehemaligen Design-Ort 


UNSERE SCHAFE

 Als ich letzten Sommer mit meinen Eltern skypte, kamen wir auf Rotis zu sprechen, ein kleiner Ort in der Nähe unseres Zuhauses. Ich sagte, dass ich mich noch immer frage wie es in den 70ern und 80ern gewesen sein muss, als der Grafiker Otl Aicher dort ein Designstudio mit bis zu einem Dutzend Angestellten betrieb. Mitten hier im Nirgendwo – im Voralpenland des Allgäus.
„Rotis?“ hat meine Mutter gesagt, „witzig, dass du das grade jetzt erwähnst. Vor ein paar Wochen haben seine Söhne hier angerufen und gefragt, ob sie ein paar von unseren Schafen leihen könnten, um ihre Wiesen zu pflegen.“
Unsere Schafe grasen die Wiesen in Rotis – ich brauchte einen Moment, um das zu verstehen.
Soweit ich wusste, hat Aicher einmal gesagt, dass er unter keinen Umständen Schafe auf seinen Rasen lassen würde. Die würden ihn nur ruinieren. Stattdessen hörte ich, hat er höchstselbst wöchentlich sein weitläufiges Anwesen mit einem Rasentraktor gemäht. Und erst wenn das Gras gleichmäßig getrimmt war, war er zufrieden und bereit den Traktor zurück in die Garage zu stellen.

Nach 20 Jahren in Rotis kam Aichers Büro zu einem plötzlichen Ende. Ohne Zweifel eine tragische Geschichte, aber auch eine mit absurder Symbolik. Aichers Genauigkeit war unermüdlich. Um Wendespuren auf seinem Rasen zu vermeiden, fuhr er seinen Traktor auf die Straße und wendete dort. So konnte er seine nächste Mähspur mit einem geraden Einstieg beginnen.
Niemand weiß, wie viele Reihen er an diesem Augusttag 1991 beenden konnte, bevor ihn ein aus Bayern kommendes Motorrad bei seiner letzten Wende erfasste. Eine Woche später erlag einer der bedeutendsten Grafiker der Nachkriegszeit seinen Kopfverletzungen in einem Krankenhaus in Günzburg.

Mit der letzten Wende auf dem Rasentraktor endete Aichers Ideal von Rotis – mit unseren Schafen auf seiner Weide beginnt diese Geschichte. Es ist eine Geschichte über das Streben eines Mannes nach Ordnung und Kontrolle, und dem Chaos der Wirklichkeit. Über Erfolg und Bedeutung auf der einen, der darauffolgenden Ernüchterung der Erben auf der anderen Seite. Über den Verfall eines modernistischen Denkmals, das umgeben ist von altertümlichen Bauernhöfen. Und über mich, und wie ich mich durch die Ablagerungen der Vergangenheit arbeite.

DER SCHWÄTZER

Mein Interesse für Rotis begann mit einem Gerücht. Ein Gerücht, das ich vor Jahren in der einzigen guten Kneipe, in der Stadt in der ich aufwuchs, aufschnappte. Im Gasthaus Lamm, oder „Lamm“, wie man es schlicht nennt. Das Gerücht besagte, dass Aicher, als er 1972 nach Rotis zog, seine Häuser auf Stelzen setzte, um eine offizielle Baugenehmigung zu umgehen. Ein spitzbübischer Trick.
Angeblich hatte er die Häuser ohne jegliche Papiere errichtet und als das Bauamt seine Abrissbirnen schickte, verwies er auf deren eigenes Grundbuch, das dem Gerücht zufolge sagte: „Nur das ist ein Gebäude, und erfordert eine Baugenehmigung, das eine Grundfläche von 3m2 überschreitet“. Aichers Ateliers schweben zwei Meter über dem Boden – und wären in diesem Sinne keine Gebäude.

 

 

 

Neben den zwei Ateliers auf Stelzen, baute Aicher den alten Rotisser Sägeschuppen in eine geräumige Halle um – die auch mit Sheddächern bedeckt ist. Er errichtete eine Garage mit Pultdach und baute die zwei alten Satteldachgebäude aus, das Mühlenhaus und den Kuhstall.

Die Geschichte mit den Stelzen blieb bei mir hängen, obwohl mir bewusst war, unter welchen Umständen sie erzählt wurde. Die Anzahl schwerer, regionaler Biere von denen man weiß, dass sie die Zunge lösen und Schwätzer dazu verleiten Tatsachen zu ignorieren – damit ihre Geschichten besser klingen.
Am Tag darauf rief ich den Vater einer meiner Freunde an, der als Stadtplaner im Rathaus arbeitete. Ich erzählte ihm von der Geschichte um herauszufinden, ob an dem Ganzen etwas dran war oder nicht. Er hatte davon noch nie gehört, da er von der Idee aber beeindruckt war, ging er der Sache nach und schickte einen seiner Mitarbeiter ins Archiv.
Er rief mich zwei Tage später zurück, um mir zu berichten: „Es ist mir ein Rätsel, Aichers Bauakte beinhaltet weder Notizen noch Briefwechsel. Sie ist komplett leer!“

Ich hatte die ganze Sache schon vergessen – bis der Zufall sie zurückbrachte. In den nächsten Sommerferien wurde das Achtelfinale der Europameisterschaften auf einer Leinwand vor dem „Lamm“ ausgestrahlt. Griechenland gegen Deutschland. Eine bittere Niederlage, gerade in Anbetracht der aufkommenden Wirtschaftskrise der Griechen.
Nach dem Schlusspfiff kam ich wieder mit dem gleichen Typen ins Gespräch – dem Stelzen-Gerücht-Typ. Ein stadtbekanntes Original und Stamminventar im Lamm. Hinter seinem Rücken wird er von den Leuten „Captain Jack Sparrow“ genannt, wegen seines hölzernen Ganges, seinen langen fettigen Haaren um dem Hut, den er trägt.
„Da interessierst du dich immer noch für?“, fragte er, „dann solltest du mal mit Julian sprechen.“ Er zeigte in Richtung eines kräftigen, glatzköpfigen Kerls in seinen Fünfzigern, der breit am letzten Biertisch saß. „Ich stell dich ihm vor.“
Als wir uns ihm näherten, bemerkte ich dessen Ähnlichkeit zu Aicher. „So so,“ sagte der Mann mit der Stimme eines Schwaben, der versucht Hochdeutsch zu sprechen, „da interessiert sich also wieder einer für den Herrn Aicher.“

Das Fußballspiel ist jetzt zwei Jahre her. In der Zwischenzeit habe ich alles über Otl Aicher und Rotis gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Ich war in Aichers Archiv, habe mit zwei seiner früheren Assistenten gesprochen und habe seinen Sohn Julian im heutigen Rotis besucht.

DER DESIGN-BEAUFTRAGTE

Um Aichers Rotis voll zu verstehen müssen wir noch weiter in der Zeit zurück. München im Jahr 1972, mitten in den letzten Vorbereitungen der Olympischen Spiele, in der Büroetage, in der Aicher als Design-Beauftragter arbeitete.

Über vier Jahre hinweg leitete er hier ein Team von Assistenten, das ihm half, sein Konzept zu verwirklichen: Heitere, friedliche und unpolitische Spiele. Die Idee war, sich radikal von den Spielen von 1936 in Berlin abzuwenden, die von den Nazis für ihre Propaganda missbraucht wurden. Aicher verabscheute die Nazis zutiefst. Im zweiten Weltkrieg desertierte er unter ihrer Fahne. Das Team stülpte München nach seinen Anweisungen in ein modernistisches Gewand. Sie ersetzten das totalitäre System der Nazis mit ihrem eigenem, einem in strahlenden Farben und klaren Linien.
Orangefarbene, gelbe, hellblaue und grüne Poster, Flaggen und Beschilderungen wurden gedruckt und in der ganzen Stadt aufgehängt. Die Poster zeigten Sportler aus allen Disziplinen, gedruckt in strahlenden Pantone-Farben, gelabelt mit den olympischen Ringen, Aichers Spirale und einem „München 1972“ gesetzt in serifenloser Schrifttype. Heftchen, Presseausweise, Uniformen – alles was man sich vorstellen kann, wurde designed, produziert und geliefert. Es gab einen kleinen Plastik-Dackel namens Waldi – das olympische Maskottchen – und eine aus hellblauem Nylonstoff gefertigte Version eines Bayerischen Dirndels für die volontierenden Hostessen.

 

 

 

Der allmählich nachlassende Druck im Büro gab Aicher Raum über die Zukunft nach den Spielen nachzudenken. Seit einer gewissen Zeit spielte er mit dem Gedanken einer drastischen Veränderung; er wollte sich aufs Land zurückziehen, mit sowohl der Familie als auch dem Studio. Als ein Bekannter ihm die verlassene Mühle in Rotis zeigte, wusste er sofort: „Das ist es!“. Noch während er über das Mühlengelände schlenderte, zeichnete er in Gedanken die Umrisse von Gebäuden, die er später zurück am Schreibtisch in München mit einem Kugelschreiber skizzierte.

Jetzt, da er wusste, wo das neue Studio entstehen würde, war es an der Zeit nach guten Assistenten Ausschau zu halten. Eine Woche vor Beginn der Spiele lud Aicher Monika Maus zu einem Vorstellungsgespräch ins Olympiabüro ein. Eine technische Zeichnerin aus Ulm, langjährige Assistentin seines hfg-Kollegen Walter Zischegg, der sie wärmstes empfahl.
Aicher führte sie durch das geschäftige Büro. Während die beiden von Schreibtisch zu Schreibtisch liefen, erzählte er ihr enthusiastisch von seien Plänen in Rotis. Beim Sprechen lehnte er sich über die Zeichentische seiner Assistenten, gab ihnen entweder ein zufriedenes Nicken oder fertigte eine schnelle Skizze mit Korrekturen an. Als die beiden das Ende des Raums erreichten, drehte er sich zu ihr um, fragte das Mädchen mit dem selbstbewussten Lächeln und dem dunklen Pagenschnitt, „kann ich auf sie zählen, Fräulein Maus?“

Monika, die ihm im Stillen folgte, war bereits von Aichers farbigen Entwürfen angetan, als sie sie auf dem Weg vom Hauptbahnhof ins Büro in der Stadt hängen sah. Natürlich wollte sie für diesen Mann arbeiten, aber sie hatte leichte Zweifel an der ländlichen Abgeschiedenheit des neuen Studios und den Auswirkungen, die dies auf ihr Leben hätte. Sie antwortete gerade raus: „Ich glaube ich muss mir das erst ansehen, Herr Aicher, bevor ich ihnen eine feste Zusage geben kann.“
„Hoppla!“, sagte Aicher, und – von sich selbst in der dritten Person sprechend – „das hat ein Aicher lange nicht mehr gehört.“ Aber weil er ihre Direktheit schätzte, versicherte er ihr: „Ich werde dafür sorgen, dass Sie Rotis zu sehen bekommen, sobald die Bauarbeiten beginnen.“

Am Schluss empfahl er ihr die Cafeteria im zweiten Stock zu besuchen, die Terrasse biete einen einmaligen Ausblick über das gesamte Olympische Dorf.
„Danke Herr Aicher, aber ich bin den ganzen Vormittag im Dorf herumspaziert. Der Ausblick wäre nicht mehr überraschend.“
Jetzt, vollends beeindruckt, sagte Aicher: „Moni“ – und so wird er sie kommenden fünf Jahre nennen – „Leutʼ, die sich an den Aufsehern vorbeischleichen um ins Olympische Dorf zu kommen, das ist der Schlag Leute die ich in Rotis brauche.“

 

Der ganze Text ist im Materialverlag, sowie im 1%ofONE Verlag als gebundenes Heft erhältlich.

http://www.oneofone-verlag.com
http://material-verlag.hfbk-hamburg.de/material/368

© Text: Marius Schwarz
© Abbildung: Karsten de Riese