DENN ALLES, WAS ICH GETAN HAB UM DICH ZU BEHALTEN, BLÜHT

13-12-2021 / Alex Hojenski

Momente aus DOLLHOUSES — eine Performance im Hamburger Stadtteil St. Pauli, Oktober 2021, initiiert von Lisa Klosterkötter und Signe Raunkjaer Holm

 Mit: Olga Gry Becker, Liza Dries, Jakob Engel, Moritz Englebert, Paula Erstmann, Rosanna Graf, Johannes Hoffmann, Signe Raunkjaer Holm, Lisa Klosterkötter, Philomena Lauprecht, Niels Bendix Neumann, Philipp Joy Reinhardt, Miriam Stoney, My Anh Chi Trinh, Gesa Troch, Frederik Vium

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DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel

 

In dumpfes Gelbbraun gehüllt stehe ich im Flur und inhaliere warme, nussige Süße.
Von Duft, Licht und Sound umnebelt wandern wir andächtig aber aufmerksam durch die vielen kleinen Zimmer, immer bedacht alles aufzunehmen, was uns angeboten wird.

Neben Trash, Kneipen, Tourismus und Sexarbeit reihen sich Airbnbs zwischen Läden und Wohnungen in den kleinen Straßen des Reeperbahn-Viertels.
Dollhouses ist zu Gast, temporär zur Miete in Kontext und Behausung.
Ich bin eingeladen und werde diskret durch den Abend geleitet.
Ich weiß vorab: Nora ist weg.
Sie hat das Haus verlassen.

Als Gruppe im Dunkel des Abends empfangen, werden wir nur einzeln eingelassen, um direkt durch die Hintertüre des Treffpunkts, dem Hotel Heimat, wieder nach draußen entlassen zu werden. Der freie Hof, Autos auf dem Parkplatz.

Ich pflücke eine der mir angebotenen, wächsernen Knospen. Gelbe, harte Tropfen mit langen blonden Locken.
Wie von einem Feuer werde ich von dem roten Licht aus einem der parkenden Wagen angezogen. Die Fahrertür ist leicht geöffnet, es spricht eine Stimme. Im Dunkeln wirkt die Situation sehr intim auf mich. Das (Selbst)Gespräch, dem ich über die Freisprechanlage lausche, ist es allemal. Es geht um Schulden, Anklagen und die Frage, wie es weitergehen kann. Das Smartphone liegt alleine auf dem Beifahrersitz. Kevin, sein Besitzer ist aus dem Auto und damit auch aus dem Gespräch ausgestiegen.
Ich löse mich von dem Wagen, überlasse die Szene einer nachfolgenden Person und mache mich auf den beschriebenen Weg zu Olga in die Erichstraße, wo mich die Süße von Heim und Haus einnehmen wird.

 

DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel
DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel
DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel

 

Das Puppenhaus verfügt über viele Räume. Zimmer für Zimmer wird eine neue Szene für mich dargeboten. Teils zu zweit, teils alleine befinden wir uns in den Räumen und sitzen ihren Bewohner:innen gegenüber: Barbie und Baby, der backenden Olga, dem Knospenbeschwörer, Personen nur in Handtuch oder weißer Pappmaché-Rüstung bekleidet. Menschen, die ihre Situation ertragen, einem Traum nachsinnen oder mit ihrem Kater zu kämpfen haben. Ich finde mich in einem Beziehungsstrudel zwischen vielen Personen, die doch nur ein und dieselbe sein könnten. Dazwischen begegne ich Objekten und Szenerien, die wie magisch aufgeladen scheinen. In einigen Räumen bin ich allein mit ihnen: sprechende Schwämme, strahlend erleuchtetes Gel im Shampoospender. Ein langer Zopf aus schillernden Stoffen reicht durch den Raum und aus dem Fenster. Auf den Servietten neben den Pizzaresten eine Notiz, wiederholt per Hand geschrieben:

„Eigentlich mag ich das große Zimmer ganz gern, wäre nur diese schreckliche Tapete nicht. Doch daran darf ich nicht denken. Die Tapete sieht aus als wüsste sie welch schädlichen Einfluss sie auf mich hat.[1] - N.“ 

Es liegt eine Anspannung in der zuvorkommenden (Gast)Freundlichkeit, wie eine umhergeisternde Kühle. Die Räume stecken voller Codes. Manches präsentiert sich offen, andere Details werden wohl nur von wenigen wahrgenommen. Vieles zitiert bereits Inszeniertes: während Nora in dem titelgebenden Nora oder ein Puppenheim (Henrik Ibsen, 1879) in der Originalfassung ihre Familie verlässt, versieht die deutsche Uraufführung 1880 in Hamburg die Geschichte mit dem „Happy End“ ihrer Rückkehr. Der Schutz der Institution Ehe steht über der kritischen Reflexion von Eigentum und Eigenleben. DOLLHOUSES agiert als Inszenierungs-Cut-Up und Fortsetzung diverser Stücke und platziert sich damit im Rotlicht- und Tourismusviertel, das als geliehene Heimat der Dollhouses fungiert.

 

DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel
DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel

 

Zurück unter dem Bogen aus getrockneten Blumensträußen sitzt die teilnahmslos relaxte Katze im Empfangsraum. Sie ist mit ihrem Smartphone beschäftigt und räkelt sich grazil in ihrem edlen, schwarz glänzenden Fell. The cat inside beobachtet auf ihre Weise.

Nachdem ich Olga beim Anrühren des Makronenteigs geholfen habe, schickt sie mich weiter in den Raum von Barbie und Baby. Zu zweit - kurzer Hand den Rollen der Kamera und Erzähler:in verpflichtet - werden M. und ich Zeug:innen und ungewollte Dirigent:innen eines stürmischen Dialogs zwischen sich scheinbar gleichenden Liebenden in ihrem völlig verwüsteten Zimmer.

 

DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel
DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel
DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel
DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel

 

„BEOBACHTERIN: BABY blickt BARBIE erschrocken an. BARBIE hält ihren Bauch. Die Kamera wandert von BARBIES Bauch zu BARBIES Gesicht. Dann Totale. Jetzt wird es spannend.

            BARBIE: Keine Sorge, es ist nichts Schlimmes.

            […] Ich bin…

BARBIE zögert, nimmt einen Schluck Tee.

            Ich bin jetzt sicher: Diese Tapete hat etwas, das nur ich sehen kann.

BABY: Schhhhhhht! […]           

Das habe ich dir vor drei Wochen schon gesagt.           

[…] Ich will, dass wir das gemeinsam entscheiden.        

            BARBIE: Das ist deine Entscheidung.

BABY: Wieso meine?               

            BARBIE: Das ist doch klar.“

 

Anweisungen und Selbstbestimmung zerren aneinander und ziehen sich durch alle Räume, nicht nur durch die Sequenzen von Barbie und Baby.
Das Format ist zugleich inhaltliche Setzung. Wir Gäste sind Eingeweihte und wissen uns zu verhalten. Ich bewege mich frei, bringe meine Vorlieben mit (wie immer, nur hier merke ich es deutlicher) und bin doch darauf angewiesen, eingelassen zu werden, wenn ich neugierig an einer Tür klopfe. Was ich erlebe hat sich bereits mehrmals wiederholt und wird es anschließend wieder. Ich markiere jedes Zimmer, in das ich eintrete, mit meiner gelben Knospe, die ich um den Türknauf wickle. Das Zeichen für die anderen Besucher:innen, dass das Zimmer belegt ist.
Allesamt sind es Schlafzimmerszenen, in denen sich hinter Tänzen und Zwiegesprächen etwas abspielt, das zwischen Selbstmotivationstraining und inszenierter Show liegt.

Finger folgen den rhythmischen Bewegungen eines YouTube-Videos.
Ich, auf einem Hocker, in der Ecke des Zimmers. Du, ganz frisch gemacht, mit deinem umgebundenen Handtuch, tanzt durch den Raum. Sie, meine Vorgängerin, in deiner Sprachnotiz festgehalten. Es ist ganz offensichtlich, dass du auch mich beurteilen wirst.

Im Loop stürmen Barbie und Baby aus ihrem Zimmer und lassen die Türen knallen.

Am anderen Ende der Wohnung hatte sie ihre Rüstung nicht von Anfang an übergestreift. Doch jetzt dreht sie sich in Kreisen, verkettet sich in Ratschlägen und Verweisen, die das eine Leben erträglich machen wollen und ein Weiteres versprechen. In einem kruden Mantra versponnen, werden erneut Zuneigung und Schulden verhandelt. Etwas benommen ende ich aus Versehen mit der performenden Person im angrenzenden Badezimmer. Sie bleibt sehr höflich und bittet mich hinaus.

Ich gehe zurück zu Olga, die mich und eine weitere Person in das Untergeschoss des Hauses bringt. Am Ende der Souterrainräume werden wir, wieder zu zweit, zu einer Art Zeremonie empfangen. Im voller Wasserdampf stehenden Badezimmer werden auf lyrische Weise Liebe und Hingabe beschworen und zuletzt unsere Wachsknospen geschmolzen. Die lange, blonde Locke reiht sich in den Perückenschopf, der sich über einen nackten Oberkörper schmiegt. Aus dem Dampf erhalte ich eine kleine Rosenblüte, die unsichtbar in meiner Wachsform eingegossen war.
Der Rest gleicht einer Mischung aus schäbigem Hotel, Backstage und abgeranzter Wohngemeinschaft. In Mitten dieser sitze ich mit einem weiteren Besucher auf einem Bett, unbekannt und doch auf Abstand bewusst intim. Auf dem Bildschirm gegenüber zeigen sich Szenen, die sich hier zuvor abgespielt haben: Songproben, Warten, das Leeren von Getränkedosen und Chipstüten. Spätestens nach dem zweiten Durchlauf des Videos setzt sich ein Song in meinem Kopf fest, der sich bereits im ersten Haus in Dauerschleife wiederholte. Es ist vorbei, bye bye, Sonnenschein. Weniger als in Wartebereichen zuvor fühlt es sich hier an, als wären wir hängen geblieben. Auf einer Party, die längst vorbei ist, einem Proberaum, der für immer die größte Bühne bleiben wird. Irgendwann öffnet sich das Fenster von außen und wir werden weiter gebeten.

Der Spielraum breitet sich in die verwinkelten Straßenzüge der Nachbarschaft aus. Als geführte Gruppe bewegen wir uns durch die Gassen, die voller Gesichter und eigenen Geschichten unweigerlich Teil der Erzählung werden.
Wir treten in einen weiteren Vorraum ein. Uns werden Getränke gereicht, wir sind eingeladen zu bleiben. In einem Hinterzimmer sind sie es nun wirklich: abwechselnd performen zwei mit kleinen Zöpfen frisierte Personen, die bereits im Video zuvor zu sehen waren, verschiedene Coverversionen des Sonnenschein-Soundtracks. Hingabe, Aggression, Leid und auch Humor variieren in ihren Interpretationen, unausweichlich bleibt der Ohrwurm.

Eine Frage, die sich durch DOLLHOUSES zieht ist, wie viel Einblick wir in das Lieben und Leiden anderer haben und wie viel von uns in einer Performer:in landet, in alltäglichen Inszenierungen neben, auf und hinter Bühnen. Zu leicht sind wir Voyeurist:innen, Tourist:innen, Konventionswiederholer:innen und doch potentielle Beteiligte an Brüchen mit der tradierten Ordnung. Verantwortungsgrenzen und Deutungsfreiheit.
Etwas Feierliches mischt sich mit dem Gefühl in einen endlosen Loop eingestiegen zu sein. Ist es möglich unbeteiligt einzusteigen, aber Beteiligung nötig, um die Wiederholung zu stoppen?

Ich trete zurück auf die Straße und weiß, auch Nora hat das Haus verlassen.
Der Loop beginnt in meinem Kopf erneut, Sonnenschein ist vorbei.

 

DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel
DOLLHOUSES Hamburg, 2021, Foto: Jakob Engel

 

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[1]. Zitat aus Charlotte Perkins Gilman: Die Gelbe Tapete (1892)