Die Konstruktion des Unsichtbaren – zur Ausstellung

24-10-2020 / Thomas Piesbergen

In seinem Buch „Schreiben – Vom Leben der Texte“ konstatiert der Dichter Kurt Drawert, die Literatur beschäftige sich häufig mit dem „Unaussprechlichen“. Diese Aussage erscheint zunächst widersinnig, denn wie sollte man mit der Sprache Dinge erfassen und zum Ausdruck bringen, die sich einer Versprachlichung widersetzen?

Um dieses Paradoxon zu entschlüsseln ist es notwendig, zu bestimmen, was mit dem „Unaussprechlichen“ eigentlich gemeint ist. Drawert selbst liefert uns keine belastbare Definition, sondern nennt es an anderer Stelle nur vage „das Unbewußte“, auf das man nur durch poetische Symbole verweisen kann.
Läßt man den Blick jedoch über das weite Feld der Literatur schweifen, wird rasch klar, was Drawert mit dem „Unaussprechlichen“ gemeint haben muß: es ist die sog. „Qualia“, also der rein subjektive Inhalt der Erfahrung, die ihre eindrucksvollste Verbildlichung durch Marcel Prousts Biss in eine teegetränkte Madeleine erfahren hat. Die geschmackliche Sensation löste in Proust eine Kaskade der Erinnerung aus, die den Anstoß zu der „Suche nach der verlorenen Zeit“ gab. Durch ein sensorisches Ereignis wird ein komplexer Zusammenhang von Erinnerungsbilder, körperlichen Empfindungen und Gefühlen geweckt, der jeder Wahrnehmung ein gegenwärtiges und einzigartiges Gepräge verleiht.

 

Ausstellungsansicht: Spuren von Peter Boué

 


Die Einzigartigkeit der individuellen Qualia wird durch die vom Neurologen Antonio Damasio beschriebene besondere Eigenschaft der Gefühle gewährleistet, Erinnerungen zusammen zu fassen. Da unser Repertoire von Gefühlen zwar vielschichtig, aber begrenzt ist, werden deshalb oft Dinge mit denselben Gefühlen belegt, die zunächst disparat erscheinen, sich für uns aber gleich anfühlen. So können Verknüpfungen zwischen Dingen, Vorgängen und Zuständen entstehen, die dem Logos zwar rätselhaft bleiben, unserem Bewußtsein dennoch einen poetischen Raum öffnen. Diesen Effekt können wir vor allem in unseren Träumen erleben, in denen Dinge in Zusammenhang gebracht und mit Atmosphären und Bedeutungen aufgeladen werden, die sich im Traum zwar richtig angefühlt haben, uns im wachen Zustand aber unverständlich erscheinen, und deren zugrunde liegenden Muster sich oft nur mit einer Psychoanalyse enthüllen lassen.
In seinem umfangreichen Essay „Gezeiten des Geistes“ verglich David Gelernter das Zustandekommen konsistenter Gedanken und innerer Bilder mit dem Übereinanderlegen von transparenten Bildfolien. Erst wenn ein Kleinkind Dutzende oder Hunderte von Beobachtungen, die z.B. mit dem Begriff „Baum“ etikettiert werden, aber niemals deckungsgleich sein können, übereinander gelegt hat, kann es aus all diesen sich überlagernden Eindrücken eine Schnittmenge lösen, die ihm in Zukunft ermöglicht, das Wort „Baum“ in einem für andere nachvollziehbaren Zusammenhang zu benutzen. Die Wiederholung einer Beobachtung läßt uns abstrahierte Muster erkennen, die das beobachtete Phänomen uns selbst begreiflich und anderen vermittelbar machen.


In seinem Werk Schöpferische Entwicklung von 1907 formulierte Henri Bergson dieses Phänomen der Wiederholung und Abstraktion wie folgt: „Ist aber alles in der Zeit, dann wandelt sich auch alles von Innen her, und die gleiche konkrete Wirklichkeit wiederholt sich nie. Wiederholung also ist nur im Abstrakten möglich: was sich wiederholt, ist diese oder jene Ansicht, die unsere Sinne und mehr noch unseren Verstand eben darum von der Wirklichkeit ablösen, weil unser Handeln, auf das alle Anstrengung unseres Verstandes abzielt, sich nur unter Wiederholungen zu bewegen vermag.“

Handelt es sich nicht um Beobachtungen konkreter Dinge, wie eines Baumes oder eines Stuhls, die wir übereinanderlegen, sondern um Qualia, die wir versuchen in Deckung zu bringen, verfestigen sich deren Schnittmengen schließlich zu intimen, emotional aufgeladenen, identitätsstiftenden Inseln in dem Strom unseres Erfahrungskontinuums. Sie können zuverlässig komplexe Seelenzustände wie z.B. Sehnsucht, Schwermut, Unbehagen oder Geborgenheit verkörpern und bilden als subjektive Ideale und Archetypen wichtige Orientierungspunkte in der Auseinandersetzung mit uns selbst und der Welt.

Das, was Kurt Drawert das „Unaussprechliche“ nennt, ist also etwas, mit dem wir nicht nur in der Literatur zu tun haben. Es bezeichnet einen generellen Aspekt menschlichen Erlebens und ist genauso das „Unabbildbare“. Durch seine Verwurzelung in der vorsprachlichen Region der Empfindungen, Affekte und Gefühle und seine dadurch bedingte Eigenschaft, disparate Dinge assoziativ in einen emotional konsistenten Kontext zu bringen, kann es wohl als Impuls für alle kreativen Prozesse verstanden werden. Denn Neues kann nur geschaffen werden, wenn neue, bisher nicht realisierte Zusammenhänge gebildet werden.

Diese Leistung kann aber nur mittels unserer assoziierenden Gefühle erbracht werden, und dieser Aspekt der Entstehung wiederum macht die so in die Welt gesetzten Schöpfungen zu etwas menschlich Relevantem, denn ihr Bezug auf die conditio humana ist a priori gegeben.

Ein prominentes Beispiel aus der Kunstgeschichte, das diesen Komplex der subjektiven Idealbildung und deren künstlerische Übersetzung ausgezeichnet illustriert, ist Caspar David Friedrich. Seine Landschaften waren, trotz einer vordergründig realistischen Darstellung, immer Ausdruck eines inneren Erlebens und Gegenstand langwieriger, akribischer Konstruktion. Er schrieb: „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann förder zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“
Entsprechend weigerte er sich standhaft, ein wissenschaftliches Essay Goethes über die Wolkenbildung zu illustrieren, da seine beeindruckenden Wolkengebilde nicht der akut beobachteten Natur abgeschaut waren, sondern mit Reißschiene und Zirkel konstruierte Idealtypen darstellten. Sie waren die Summe aller Wolken, die er in Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Qualia stellte, und die deshalb essentieller Teil der für ihn schlüssigsten Repräsentation derselben waren.

Diese inneren Bilder, die eine Summe von äußeren, einander entsprechenden Eindrücken, den damit korrespondierenden Gefühlen und assoziierten Erinnerungsinhalten darstellen, stehen für eine höhere, innere Wirklichkeit, die dem Selbstgefühl des Künstlers und seiner einzigartigen Weltwahrnehmung gerechter wird und für ihn entsprechend eine höhere Gültigkeit besitzt, als alle von außen gemachten Zuschreibungen oder kollektiven Übereinkünfte, wie die Wirklichkeit sei. Denn die Qualia ist gelebte subjektive Wirklichkeit. Bilder, die aus ihr hervorgehen, sind nach dem subjektiven Gefühl des Künstlers deshalb immer lebendiger und wirklicher als rein naturalistische Abbildungen. Zugleich kann er durch sie die als nicht mitteilbar, nicht abbildbar geltende subjektive Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grad doch mitteilbar machen und abbilden, so wie die Literatur sich sprachlich auch dem Unaussprechlichen nähern kann.

Wie ist es aber um den Wirklichkeitsgehalt der Bilder bestellt, seit dem die Fotografie für sich reklamiert, ihre einzig authentische Darstellungsform zu sein?


Durch die Reproduzierbarkeit der Fotografie und die damit einhergehende Wiederholung der Rezeption ein und desselben Fotos in verschiedenen Kontexten, ist es den Lichtbildern gelungen, in unsere innere Bildwelt zu migrieren. Wie sehr uns das betrifft läßt sich schnell nachvollziehen, wenn man sich alte, oft betrachtete Fotos vor Augen führt, die, durch ihren wiederholten Gebrauch, als Auslöser für Erinnerungen selbst zu Kernen von Erinnerungsgeflechten geworden sind oder die authentischen Erinnerungen sogar abgelöst haben. Mitunter bringen sie so offenkundig unsinnige Verzerrung hervor, wie eine Eintönung der ursprünglichen Erinnerung in den vergilbten Ton von Agfa-Fotopapier.
Genauso können aber auch öffentliche Bilder wie Fotos aus Zeitungen Teil unseres subjektiven Erinnerungsrepertoires werden und mit bestimmten Qualia-Komplexen eng verknüpft sein.

Diese Überschneidung und Durchdringung von inneren Bildern mit den vermeintlich objektiven, öffentlichen Bildern ist einer der Gründe gewesen, aus dem Peter Boué, nachdem er lange nur Dinge gezeichnet hat, die vollständig seiner Imagination entsprungen waren, seit geraumer Zeit auf Bildvorlagen zurückgreift.

 

Baugrube, Peter Boué, 2020
Boden, Peter Boué, 2020


Als Ausgangsmaterial dienen ihm dafür sowohl selbst gemachte Fotos, als auch Bilder aus der Zeitung. Doch selbst wenn die Umsetzung mitunter frappierend realistische Effekte hervorbringt, haben wir es, ganz ähnlich wie im Falle C.D. Friedrichs, keinesfalls mit der Darstellung faktischer Orte zu tun. Denn ganz im Sinne des Prozesses, in dem sich innere Bilder aus der Bündelung ähnlicher Beobachtungen und Qualia-Komplexe aus der Zusammenfassung von verschiedenen Ereignissen mit sich gleichender Gefühlslage ergeben, konstruiert Peter Boué seine semi-urbanen Landschaften aus verschiedenen, miteinander verschmolzenen Bildern.
So entstehen aus der Zusammenführung von verschiedenen dokumentarischen Bildern künstlich erschaffene Anmutungen der Authentizität, die aber nichts Faktisches abbilden, sondern wiederum auf etwas verweisen sollen, das nicht abbildbar ist.

Auf der motivischen Ebene wird dieses abstrakte Vexierspiel fortgesetzt. Wir sehen kahle Ort, die Kennzeichen des Umbruchs tragen. Reifenspuren von Lastwagen oder Baggern, ausgehobene Gruben, seltsame Abdrücke im Sand. Spuren erster Ordnung, die konkret auf die Maschinen verweisen, die sie hervorgerufen haben, und Spuren zweiter Ordnung, die die Vergangenheit oder die Zukunft des Geländes erahnen lassen: etwas, das einmal auf einer planierten Fläche gestanden hat, oder das, was auf ihr errichtet werden soll.
Immer sind es Orte im Transit, explizit vorübergehende Zustände, unstete, liminale und dennoch vollständig stille und eingefrorene Stätten zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Dieser metamorphen Qualität entsprechen auch zwei formale Aspekte der Arbeiten. Die massiven Schwärzen, mit denen Peter Boué seit langer Zeit arbeitet, sind niemals einfach nur schwarze, tote Flächen. Entweder erzeugen sie eine dynamische Tiefe, die uns anzieht oder sogar ein Gefühl des Schwindels in uns hervorruft, oder sie scheinen etwas in sich zu verbergen, das nur darauf wartet, aus der Dunkelheit hervorzutreten; etwas, das uns beunruhigt, auf das wir lauern und das uns vielleicht ebenso belauert. Die Nicht-Sichtbarkeit dessen, was die Schwärze vielleicht verbirgt, evoziert das irritierende Gefühl einer Anwesenheit.

Andere Bilder fallen, trotz des fast fotorealistischen Eindrucks, den sie aus einer gewissen Entfernung wecken, aus der Nähe völlig in einzelne Striche, in Zusammenballungen oder Streuung der Kohlepigmente auseinander. Sie lösen sich zu einem schwarz-weißen Rauschen auf. Vor unserem inneren Auge jedoch ziehen wir dieses abgestuften, mal sich entziehenden, mal dichter werdenden Kohlegestöber zu projizierten Bildeinheiten zusammen, so wie wir Formen in Wolken hinein sehen.
So erleben wir in diesen Flächen sowohl den Zusammenbruch und die Auflösung des Motivs, als auch die Neuformierung imaginierter, möglicher Bildinhalte. Wir erleben also nicht nur die Motive, sondern auch die Texturen als metamorph, im Übergang befindlich.

Das, was unsere Erfahrung, unsere Wirklichkeit in Gang hält, sie unentwegt mit neuem Treibstoff versorgt, ist der stetig voranschreitende Wandel der niemals selbstidentischen Dinge in der Zeit, wie in dem bereits genannten Zitat Henri Bergsons, der damit dem Gleichnis vom Fluß des Heraklit ein neues, sprachliches Gewand gegeben hat.
Doch eine menschliche Dimension der Wirklichkeit kann sich nur dort entfalten, wo wir aus der uferlosen, ewig strömenden Flut des Flußes selbstähnliche Erfahrungen zur Deckung bringen und in ihren Schnittmengen überzeitliche Muster erkennen, die uns erlauben, uns unserem unabbildbaren, unaussprechlichen Selbst anzunähern. Einem Selbst im Umbruch, das sich nur in einer zur Ewigkeit ausgedehnten Gegenwart selbst ganz erfahren kann. 

 

 

Ausstellungsansicht: Spuren von Peter Boué, 2020

 

Literatur:

Kurt Drawert, Schreiben: Vom Leben der Texte, C.H. Beck 2012

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Bd.1: Combray, Ausgabe: Suhrkamp, 1984

Antonio R. Damasio, Der Spinoza-Effekt, List, 2005

David Gelernter, Gezeiten des Geistes, Ullstein, 2016

Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Ausgabe: Coron Verlag, 1984

Friedrich, Caspar David, Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. In: Gerhard Eimer, Günther Rat, (Hg.) Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen, Teil 1, Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte, XVI, 1999

Lea Singer, Anatomie der Wolken, Hoffmann und Campe, 2015

Finissage: Freitag, 30. Oktober 2020  19h
Künstlergespräch
Dauer der Ausstellung: 08. - 30.10.2020
geöffnet donnerstags und freitags 17h - 20h
 
Wegen der aktuellen Situation bitten wir um Anmeldung zum Gespräch bis 29.10.20 unter info@einstellungsraum.de
Wir sorgen für gute Belüftung und Sitzgelegenheiten für 8 Personen mit Abstand. Solange noch möglich, sollten wir uns um die Kunst versammeln.
Bitte Mund-Nasenschutz anlegen.
 
EINSTELLUNGSRAUM e.V
Wandsbeker Chaussee 11
22089 Hamburg
Tel: 040-251 41.68