KUNSTSTÜCKE
29-05-2018 / die Redaktion
Diese Rubrik widmen wir den Künstlern. Dieses Mal begegnen sich die japanische Künstlerin Asana Fujikawa und der nigerianische Autor Amos Tutuola an einem mystischen Ort – dem Ort des Unterbewusstseins, wo Ängste geboren werden; Grusel, Grausamkeit und Erotik in eine märchenhafte Erzählung fliessen.
Beschreibung des seltsamen Wesens:
Er war ein schöner vollkommener Herr, er trug die feinsten und kostbarsten Kleider, alle Teile seines Körpers waren vollendet, er war ein großer, aber kräftiger Mann. Wie er so auf den Markt kam an diesem Tag, – wäre er ein verkäufliches Tier oder eine Ware gewesen, er hätte mindestens £ 2 000 (zweitausend Pfund Sterling) gebracht. Im gleichen Augenblick, da das Fräulein ihn sah, fragte sie ihn auch schon, wo er denn lebe. Aber der feine Herr gab ihr gar keine Antwort, er kümmerte sich überhaupt nicht um sie. Als sie aber merkte, dass er keine Notiz von ihr nahm, ließ sie ihre Waren im Stich, begann den Weg des vollendeten Herrn über den Markt zu verfolgen und verkaufte nichts mehr. Nach und nach schloss der Markt für den Tag, und die Leute auf dem Markt machten sich auf den Heimweg, auch der vollendete Herr schickte sich an, zum Ort seiner Bestimmung zu gehen, – aber da ihm das Fräulein die ganze Zeit über mit den Augen gefolgt war, sah sie, wie er seinen Heimweg antrat, und sie ging hinter ihm (dem vollendeten Herrn) her, einem unbekannten Ziel zu. Doch wie sie dem vollendeten Herrn so die Straße entlang folgte, forderte er sie auf, umzukehren oder doch wenigstens ihm nicht mehr zu folgen, das Fräulein hörte, aber nicht auf das was er sagte, und als es der vollendete Herr müde geworden war, ihr zu sagen, sie möge nicht folgen und umkehren, da ließ er sie folgen.
»Folge nicht dem unbekannten schönen Mann«
Als sie aber ungefähr zwölf Meilen vom Markte entfernt waren, verließen sie die Straße, auf der sie gewandert waren, und begannen, in einen endlosen Wald einzudringen, den nur schreckliche Wesen bewohnten.
»Gib die Teile des Körpers den Besitzern zurück, oder: die geliehenen Teile vom Körper des vollendeten Herrn sind zurückzuerstatten«
Wie sie nun so in diesem endlosen Walde dahingingen, begann der vollkommene Herr vom Markt, dem das Fräulein folgte, die geliehenen Teile seines Körpers den Eigentümern zurückzugeben und ihnen das Leihgeld dafür zu zahlen. Als sie dahin kamen, wo er den linken Fuß ausgeliehen hatte, zog er ihn aus, gab ihn dem Eigentümer zurück, zahlte, und sie gingen weiter. Als sie dorthin kamen, wo er den rechten Fuß ausgeliehen hatte, zog er ihn aus, gab ihn dem Eigentümer und zahlte. Nun waren beide Füße zurück an die Besitzer gegeben, und er fing an, auf der Erde zu kriechen, – da hatte das Fräulein den Wunsch, umzukehren in ihre Stadt und zu ihrem Vater, aber das schreckliche und seltsame Wesen erlaubte ihr's nicht, umzukehren in ihre Stadt und zu ihrem Vater und sagte:
»Ich hatte dir gesagt, du sollst mir nicht folgen, bevor wir noch in diesen Wald einbogen, der allein den schrecklichen und seltsamen Geschöpfen gehört. Aber erst als ich ein unvollkommener Herr wurde, ein halber Mann mit einem verkrüppelten Körper, da wolltest du gehen, das ist nun vorbei, das hast du versäumt. Außerdem hast du ja noch gar nichts gesehen. Jetzt folgst du mir.«
Und so gingen sie weiter und kamen dahin, wo er den Bauch, die Rippen, die Brust und das andere ausgeliehen hatte, und er zog Bauch, Rippen, Brust und das andere aus, gab es dem Eigentümer und zahlte die Miete. Da blieben dem Herrn oder schrecklichen Wesen allein der Kopf mit dem Hals und beide Arme, und er konnte auch nicht mehr kriechen wie vorher, sondern kam nur noch hüpfend voran wie ein Ochsenfrosch, und nun wurde das Fräulein beinahe ohnmächtig beim Anblick dieses furchtbaren Wesens, dem sie gefolgt war. Und sie begann, wie sie so sah, dass aber auch jeder Teil dieses vollendeten Herrn vom Markt gemietet oder ausgeliehen war und zurückgegeben wurde an die Besitzer, – begann alles zu versuchen, damit sie zurückkehren könne zur Stadt ihres Vaters, aber das furchtbare Wesen erlaubte ihr's nicht. So kamen sie an die Stelle, wo er beide Arme geliehen hatte, er zog sie aus, gab sie dem Eigentümer und zahlte dafür. Und immer weiter gingen sie in diesem endlosen Wald, sie kamen an den Ort, wo der Hals ausgeliehen war, und er zog ihn aus, gab ihn dem Eigentümer, und auch für ihn zahlte er.
»Ein vollständiger Herr bis auf den Kopf zusammengeschrumpft«
Nun war der vollkommene Herr bis auf den Kopf zusammengeschrumpft, und sie kamen an den Ort, wo er die Haut und das Fleisch des Kopfes ausgeliehen hatte, er gab sie zurück, zahlte dem Eigentümer und war jetzt (der vollendete Herr vom Markt) nur noch ein Schädel, und dem Fräulein verblieb einzig die Gesellschaft des Schädels. Und als das Fräulein das sah: dass sie nur noch mit einem Schädel zusammen war, da begann sie davon zu sprechen, dass ihr Vater ihr nahegelegt habe zu heiraten, aber dass sie nicht auf ihn gehört und ihm nicht vertraut habe. Und sie drohte, angesichts des Herrn, der zum Schädel geworden war, ohnmächtig zu werden, aber der Schädel sagte ihr nur, wenn sie sterben würde, würde sie sterben und würde ihm doch zu seinem Haus folgen müssen. Und gleich nachdem er das zu ihr gesagt hatte, fing er an, mit einer schrecklichen Stimme wie ein Brummkreisel zu brummen, und die Stimme wuchs mächtig an, so dass jemand, der zwei Meilen entfernt war, ihn gehört hätte, ohne lauschen zu müssen, – da rannte das Fräulein weg in den Wald um ihr Leben, aber der Schädel verfolgte sie und holte sie nach ein paar Yards wieder ein, denn er war sehr flink und geschickt und konnte Sprünge machen von einer Meile, bevor er den Boden berührte. Er fing das Fräulein, indem er sie überholte und ihr den Weg wie ein Baumstumpf versperrte. Und so folgte das Fräulein dem Schädel zu seinem Haus, aber das Haus war eine Höhle unter der Erde. […]
Auszug aus „Der Palmweintrinker“ von Amos Tutuola
Asana Fujukawa http://asanafujikawa.com/