Kurzer Gedanke zur Erschwerung der Welt anhand von Harris-Tweed
19-01-2020 / Patrick Holzapfel
Der originale Harris Tweed ist Ausdruck einer unvermeidbaren Orientierungslosigkeit. Nein, es geht nicht um das Textil selbst, auch wenn die ineinander verlaufenden Formen und Tönungen der Wolle, die unbezwingbaren Labyrinthe der Tartans, die wellenartigen Verstrickungen verwobener Verspieltheit durchaus den neugierig Blickenden überfordern können. Vielmehr soll es hier um die Art und Weise gehen, in der Harris-Tweed einem Lebensstil entspricht beziehungsweise Lebensstilen. So gibt es jenen posh-Stil eines britischen (vornehmlich englischen) Wohlstands, für den die exklusiv auf den Na h-Eileanan Siar (die Äußeren Hebriden) Schottlands hergestellte, zu tragenden Stoffgemälde schicke, statusträchtige Modesymbole sind, nicht für jeden erschwingliche Objekte einer zugleich klassizistischen und pseudo-frechen Begierde irgendwo zwischen Hipster-Chick und echten Gentlemen, Retro-Aristokratie und Detailverliebtheit. Ehemals die gewählte Kleidung des Landadels beim sinnlosen Erschießen von Hasen und Gefieder rund um das Urlaubsanwesen im blutreich niedergerungenen Schottland, ist Harris-Tweed heute prinzipiell auch für sogenannte niedere Menschen tragbar. Familienfotos, auf denen die Farben der Tweeds mit der Landschaft um das bescheidene Schloss herum verschmelzen, zieren die stolzen Wände einer dekadenten Vergangenheit, deren verwehte Blüte sich im Tweed verfangen hat. Schnell könnte man, ob derlei geschorener Menschlichkeit den Tweed verdammen, aber ist es sein Fehler?
Der Tweed kann nicht einmal was für seinen Namen, der auf einem Missverständnis beruht. Denn die Schotten nannten den Stoff nach der Art und Weise seiner speziellen Gewebsformen „tweel“ aus dem Englischen „twill“. Croisé nennen das die Franzosen (und auch die Deutschen, die mit solchen Formen nicht so viel am Hut haben) und man kann es, darf es aber nicht, verwechseln mit dem Moiré-Effekt, der jenes Flimmern von Kleidung beschreibt, das manchen Stoffmustern vor einer Kamera zu eigen wird. Auch dann kein klares Bild! Jedenfalls erhielt ein Handelsmann (man traue ihnen nicht.) im Jahr 1826 eine Lieferung und er hielt das Wort „tweel“ für den lachsreichen schottisch-englischen Grenzfluss Tweed. Dass man von Lachsen schreibt, wenn mindestens genauso viel Blut durch diesen von englischen Massakern heimgesuchten Flecken Erde floss, ist ein Ausweichmanöver, denn wir wollen unsere schönen, weichen Pullover ja nicht besudelt wissen, oder? Immerhin wandelte auch Thomas of Ercildoune durch diese Gefilde, aus denen der Harris-Tweed wahrscheinlich gar nicht kommt. Als Thomas the Rhymer erwarb sich diese legendäre Figur im 13. Jahrhundert einen immensen Ruhm durch Poesie und Prophezeiungen. Den Sagen nach konnte er keine Lügen erzählen, dennoch verkündete er mehrfach, dass Schottland über das gesamte Königreich herrschen würde. Wenigstens in seiner Vorhersage bezüglich der vernichtenden Niederlage der Schotten in der Schlacht von Flodden Field behielt er Recht und so hatte er bestimmt auch den englischen Landadel vor Augen, der mit Golfschlägern auf Pferden ritt und Tweeds gegen den doch stürmischen Wind des Atlantiks trug. Im Golf gab es bis in die 1930er sowieso keine Alternative zum Tweed. Dann kamen Flanellhosen und Polohemden und die Welt verlor an Wärme.
Allerdings gibt es viele Tweeds aber nur einen Harris. Dieser ist eben jener, der auf den Äußeren Hebriden hergestellt wird. In den 1840ern führte Lady Dunmore die Marke in die höheren Gesellschaften ein. Sie besaß bescheidene 610 Quadratkilometer auf der Insel Harris (eigentlich Lewis and Harris, wobei Harris die Südinsel bezeichnet), die ihr, wer hätte das gedacht, durch ihr Erbe zufielen. Zu Lebzeiten baute sie dort eine Schule, kümmerte sich mit Leidenschaft um Grünflächen und Gärten und promovierte eben jenen Harris-Tweed, von dem hier die Rede ist. In Folge der Vertreibung der Schotten (der Clearances) durch die Großgrundbesitzer finden sich heute übrigens viele Harris-Tweed-Werkstätten an den eigentlich nur schwer bewohnbaren Küsten.
All das wäre aber kein Grund über diesen Stoff zu schreiben. Die längst bürgerlich gewordenen Projekte der Aristokratie sind wahrlich ohne Belang, tausendfach durchgekaut und tragen in sich weniger Orientierungslosigkeit als reine Sinnlosigkeit. Nein, das, was die Welt erschwert, ist wie so oft eine andere Perspektive. Man begegnet ihr in vielen Statussymbolen und elitären Vergnügungen. Man muss ja nur an den Mercedes denken, der einst Hitler auf seinen Paraden chauffierte und heute vornehmlich von posierenden Jugendlichen an Tankstellen poliert wird, die noch bei ihren Eltern lebend jeden Cent ihres Lehrlinggehalts für den sauberen Stern auf der Motorhaube eines Blechschlittens ausgeben. Oder an den Bio-Genuss der globalisierten Bildungsschicht, der sich handgemachten Käse, selbsterzeugte Ziegenmilch und lokalen Schinken für das gute Gewissen schmecken lässt, während die Arbeiterschicht, die diese Lebensmittel angeblich herstellt, mit Mercedes oder nicht im McDrive steht, um dort einigen Milliardären, die versalzenes Fett verkaufen zu mehr Milliarden zu verhelfen. So eine Liste ließe sich unendlich fortsetzen, im Fall von Harris-Tweed jedoch liegt der Sinn und dementsprechend auch die Sinnlichkeit im Stoff selbst verborgen. Denn diese Farben und Formen stehen im direkten Austausch mit der Landschaft, aus der sie kommen. Nicht nur bedeutet das, dass man selbst auf dem Körper eines zynischen, alten Millionärs ohne Gewissen das Meer hören kann, den Wind durch Gräser huschen sieht oder Schafe riechen kann (man verzeihe die Synästesien, die hier nur Ausdruck eines berauschenden Widerspruchs sein sollen), sondern auch, dass diese Stoffe hergestellt werden müssen. Der guten alten britischen Tradition (die sich in anderen Situationen auch als reaktionär offenbart) folgend, wird das vielerorts noch als klassisches Handwerk vollbracht. Gearbeitet wird an Webstühlen, die in manchen Museen als zu alt gelten würden. Junge Menschen nehmen sich des Handwerks an, tragen die Tradition weiter, halten die Kultur einer Insel am Leben. Sie suchen nach einem Narrativ, das sie in ihre Erzeugnisse einweben können. So verspielt sich etwa ein Sonnanaufang auf Steinen im Meer im Muster des Tweeds oder das letzte Licht eines hoffnungsvollen Sommers. Menschen, die sich für eine Existenz auf einer entlegenen schottischen Insel entscheiden, um mit Schafen und Webstühlen, dem Wetter und der Einsamkeit zu leben, bringt man nicht so leicht zusammen mit den lachsessenden Tweed-Hipstern aus London. Die raue Landschaft dieser entlegenen Orte, die reiche, wilde, unzugängliche Natur hat wenig mit der Eroberungsästhetik Westeuropas gemein, der Stoff in den Händen ist etwas anderes als der Stoff im Geschäft. Diese zutiefst mit der Natur verwachsene Form der Textilpoesie ist Ausdruck einer Utopie, die sich von nichts erschüttern lässt. Es ist als hätte ein Harris-Tweed ein eigenes Leben, das nichts mit Kleidung und alles mit Geographie zu tun hat. Man kann diese Stoffe lesen wie die geheime Karte einer besseren Welt.
Solch eine Gleichzeitigkeit erschwert und bereichert die Welt. Ich verdächtige mich selbst den Stoff dem Menschen vorzuziehen. Schon Joseph Brodsky hatte in einem Interview gesagt, dass Menschen mit ihren Händen mehr Schönheit vollbringen können als in ihrer Seele ist. Ich bin also in eines dieser schottischen Geschäfte im Herzen Wiens gegangen. Es gibt zwei Arten dieser Läden. Die einen verkaufen Whiskey, die anderen verkaufen Kleidung. Schon beim Betreten bin ich mir nicht sicher, welcher Lebensstil hier verkauft wird. Trinke ich den Whiskey oder stelle ich ihn her? Unterstütze ich beim Kauf die Destillerie und die stolze Frau am Webstuhl oder das Bild eines Wohlstands, dieses schottische Geschäft in Wien, in dem diese gelangweilte Liebe des Österreichers zu anderen Kulturen zum Vorschein kommt wie ein Überbleibsel kolonialistischer Träume? Ich sehe mich um. Alles ist perfekt angerichtet, die Farben abgestimmt, es schreit mich an: Schottland, Schottland! Aber kein Schotte kauft dieses Schottland. Zumindest sehe ich keinen. Ich sehe auch keinen Schotten, der dieses Schottland verkauft. Stattdessen vier oder fünf Österreicherinnen, die zwei oder drei Kunden bedienen und in scheinbar endlosen Wiederholungen Pullover zusammenlegen, auseinanderfalten, aufhängen, anrichten. Sie lächeln nicht, ich bin mir aber nicht sicher, ob man in Schottland lächelt. Ich war noch nie dort, entscheide aber während ich immer weniger Lust auf die ausgestellten Tweeds (kein Harris-Tweed) habe, dass ich lieber eine Tweed-Werkstätte sehen würde als einen Tweed in Wien zu kaufen. Sie sollten gleich noch ein Reisebüro in diesen Läden integrieren, denke ich mir und erkenne meine Doppelmoral. Womöglich wäre das so etwas wie die Moral dieser Gedanken. Dass eine Doppelmoral auch retten kann. Ich glaube aber, das sparen wir uns. Schließlich sind Schotten geizig.
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Erstveröffentlich: http://www.jugendohnefilm.com/