REVOTHIK

11-07-2015 / Wigger Bierma

Im Sommer 2013 war ich in Vassivière auf einem wunderbaren Schloss, auf dem ein Künstlerfreund residierte. Schon einige Jahre gelingt es ihm, Artist in Residence-Stipendien in verschiedenen Städten zu bekommen und so ist er mal hier für ein Jahr, dann mal da für ein paar Monate. Seine Lebensart passte gut zum Schloss.
Er machte mich auf das Dorf Tarnac aufmerksam, eine halbe Stunde Fahrt entfernt, gerade in der Corrèze – eine raue Gegend fast nur mit Schlängelwegen durch Wald und über Hügel. Tarnac hat – wie viele Dörfer auf dem französischen Land – die letzten fünfzig Jahre einen ständigen Leerlauf erlebt, heute gibt es noch ungefähr 300 Einwohner.
Anfang dieses Jahrhunderts zogen einige Soziologiestudenten aus Paris in ein Bauernhaus am Rande des Dorfes. Sie formten eine Lebensgemeinschaft, die sich gut integrierte. Da es keine Läden mehr im Dorf gab, haben sie einen kleinen Supermarkt gegründet, in dem man die wichtigsten Lebensmittel für den täglichen Bedarf bekommen kann. Im Anbau gibt es eine Art Restaurant-Kneipe mit einer bescheidenen Bibliothek, in der gelegentlich Filme gezeigt werden.

In der Dämmerung vom 11. November 2008 kam es zu einem massenhaften Polizeieinsatz mit Hubschraubern, Sondereinheiten und Hunden. Ein Überfall, bei dem 20 Leute verhaftet wurden, wovon neun einige Monate in U-Haft blieben. Auf Wikipedia findet man es unter Tarnac Nine. Einer von ihnen war Julien Coupat, der ein Jahr zuvor mit seiner Freundin in Amerika war, wo sie an einer anti-militaristischen Demonstration teilgenommen hatten. Das FBI registrierte alles und informierte die französischen Kollegen. Das war der Auslöser für die Verhaftungen. Die Anklage war 'kriminelle Verschwörung mit terroristischer Aktivität als Zweck'. Coupat wurde zusätzlich angeklagt der Autor des Pamphlets l'Insurrection qui vient (Der kommende Aufstand) zu sein. Eine scharfe Analyse des heutigen Kapitalismus, der mit einem stolzen Aufruf zum Bürgerkrieg endet, erschienen 2007; sofort in viele Sprachen übersetzt und im Druck und übers Netz verbreitet. Coupat wurde als Letzter der neun Inhaftierten, aus Mangel an Beweisen freigesprochen und aus der U-Haft entlassen.

Mit dieser Information fuhr ich also nach Tarnac und landete in der Kneipe, das mit dem Magasin Générale im Zentrum des Dorfes verbunden ist. Die Atmosphäre war besonders gut. Eine kleine Terrasse am Straßenrand und drinnen gab es Gesang und Musik. Allerhand Leute, hinter dem Tresen junge Männer und Frauen, die einen wachen und munteren Eindruck machten. Offensichtlich hatten sie Spaß an ihrer Arbeit. Ich bestellte einen Kaffee und ein Glas Calvados. Das Schappsgläschen wurde bis zum Rand gefüllt und der Calvados war nicht die 0815 Ware, die durchaus in ländlichen Dorfkneipen über ein penibles Messbecherchen ausgegossen wird, sondern richtig gut. Insgesamt kam es nur € 3,50... 

 

Tarnac - Magasin Général

 

In diesem Moment spürte ich ein großes Vertrauen in den 'kommenden Aufstand', und fragte mich, ob es eine Ästhetik dieses Revolutionsversuchs gibt, denkend an das, was das revolutionäre Klima genau hundert Jahre zuvor ergeben hatte: Dadaismus, Suprematismus, Kubismus, Futurismus, usw. Gibt es heute auch Ansätze für eine derartige kulturelle Explosion? Dann habe ich mich über die europäische Ursprungs-Revolution erkundigt – die von 1789 in Paris – und mir wurde klar, das es da eigentlich um einen von Intellektuellen angeheizten und gelenkten Volksaufstand ging, dessen Ästhetik nur Blut und Erschrecken war*. Klar, damals gab es wahrscheinlich auch guten Calvados für wenig Geld und tolle Partys mit rauschenden Emotionen, aber viel mehr als rote Mützen, Kokarden und die opportunistische Malerei von David – der mit gleicher Leidenschaft Napoleon gemalt hatte – gab es nicht. 1848 und 1871 genau so: nur Aufregung, die in Blut endete. In Tarnac kam es nicht viel weiter als zu praktischen Outdoor-Klamotten – Fleece Pullis, Jeans und Sportschuhe, die Uniform der Greenpeace Mitglieder – und natürlich Bio-Food. Hat der kommende Aufstand – und es ist mir schon klar, das etwas revolutionäres bevorsteht – eine Ästhetik oder ist es nur Ethik; und zum Trost ein gutes Glas Calvados für wenig Geld in einer brüderlichen Atmosphäre? Hat Revolution überhaupt mit Ästhetik zu tun? War das, was hundert Jahre vorher passierte, ein Sonderfall?

* Goethe versuchte diese Sinnlichkeit zu analysieren. 1792 zog er mit seinem Schirmherr Herzog Karl August von Weimar (der verpflichtet wurde, ein preussisches Regiment zu führen) den vorrückenden revolutionären Truppen entgegen. Der Dichter-Philosoph war vielmehr aus wissenschaftlicher Neugier als aus politischer Überzeugung mit ihm im Heer. Er hatte ebenso wenig gemein mit dem romantischen Egalitarismus, wie auch mit der archaischen Legitimitätsförderung und behauptete sowohl Revolution als Kontra-Revolution als reine brutale Angriffe auf das Reich der Vernunft. Am 20. September notierte er 'Der Ton [der Kugeln] ist wundersam genug, als wär' er zusammengesetzt aus dem Brummen des Kreisels, dem Butteln des Wassers und dem Pfeifen eines Vogels.' Goethe war mit seiner Arbeit für die Farbenlehre beschäftigt, und obwohl Karl-August es bizarr fand und sich versteckte, als es losging, forschte Goethe während der Kanonaden über die Farben des Krieges. In Valmy, wo die Kugeln um ihm herum einschlugen und alles in Trümmer versengten, und rauchende Herbstblätter aufsprangen, notierte er: 'Es schien, als wäre man an einem sehr heißen Ort und zugleich von derselben Hitze völlig durchdrungen, so dass man sich mit demselben Element, in welchem man sich befindet, vollkommen gleich fühlt. Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke noch Deutlichkeit; aber es ist doch, als wenn die Welt einen gewissen braunrötlichen Ton hätte, der den Zustand so wie die Gegenstände noch apprehensiver macht.'