Textauszug aus "Die Goldene Schnitte"

01-03-2023 / Thomas Rieck

Ich kenne das Passwort nicht mehr, um aus mir herauszufinden.
Es geht wieder los.

Im Grunde aber muß sich jeder selbstbewußt verlieren und zu
seinem Vertrauen, seinem blinden Vertrauen auf die Seeele
innerhalb bewußter, tolerierbarer Grenzen zurückkehren.

Siehe dazu: Uwe Seeeler: "Aufzeichnungen aus dem Abseits,
noch nicht ganz fertig."

In dieser Nacht hatte ich besonders wüste Träume:
Göttlicher Heizplan, Klima Prima Heiß! als Beschläunigungs-
und Bräunungsfaktor 10 für das erneute Eintreffen des unwahr-
scheinlichen
Messias
in unserer Mitte.

Ferrogosto, Rom, 23. 8. 1985

Lieber Don,
vor 3 Wochen bin ich hier in der Villa Massimo angekommen.
Ich darf 12 Monate bleiben, 365 Tage, 8760 Stunden, 525.600 Minuten in
ROM, in Studio 10 in der Villa Massimo.

Das Atelier ist schön geschnitten, sehr groß und hoch, Nordlicht natürlich.
Ich war sofort verliebt. Es gibt Räume, die möchte ich gar nicht mehr
verlassen. "Frauenzimmer" höre ich Dich sagen, "Frauenzimmer zum
vergnüglichen Ein- und Ausgehen wie im alten Rom in der Sommerhitze,
kühle Frauenzimmer vielleicht blond - Möglichkeitsräume.
Gleich nach meiner Ankunft habe ich mitten auf dem hellgrauen Steinboden
(Travertin versiegelt und poliert, hat mir später mein Bildhauernachbar aus
Studio 9 gesagt) ein großes, ca. 120 x 100 cm großes Bodenhirn in Schichten
gemalt. Acryl, Kreide, Tusche, Acryl, Beize, Spucke, Ei - und Spermatempera.

Was für eine hoffnungsvolle und rechtzeitige Inbesitznahme, oder? Mehr sage
ich dazu nicht. Die Wände sind so weiß, vielleicht 5 meter hoch.
Das Nachmittagslicht und das Morgenlicht sind besonders, sind zauberhaft.
Farbspiele von rosagraugrünlich und blauviolttorange, schwanger.
Schwangere Farben – was sonst!

Pause, ich muß trinken und denken und pinkeln.

Die Sonne muß
nicht untergehen
meistens
machen
wir
die Augen zu.

TR 16.8.19

 

Thomas Rieck

 

Am 17. September 2022 ist Thomas Rieck, Vater, Freund, Wegbegleiter, Kollege, Visionär, Meisterzeichner, Künstler, im Alter von 71 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit im Leuchtfeuer Hospiz St. Pauli in Hamburg gestorben. 

Thomas Rieck war seit 1996 Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg und erhielt zahlreiche Stipendien, u.a.  das Hamburger Arbeitsstipendium (1983), das Stipendium der Villa Massimo in Rom (1985/86), Stipendium des Kunstfonds Bonn, das Barkenhof Stipendium in Worbswede (1992/93), das „Cité Internationale des Arts“ Stipendium in Paris (2001/02) und war 1999 Gastprofessor an der HfBK Hamburg.

1977 gründeten Thomas Rieck und seine Kolleg*innen das erste Hamburger Künstlerhaus in der Weidenallee im Schanzenviertel, um einen Ort zu schaffen, an dem bildende Künstler*innen gemeinsam leben und arbeiten konnten. Bis heute lebt dieser Ort im FRISE Künstlerhaus und Abbildungszentrum Hamburg weiter, das seit 2002 in der Arnoldstraße in Altona neue Gestalt angenommen hat. Thomas Rieck war 45 Jahre lang im Rahmen des Künstlerhauses Hamburg aktiv und schuf ein einzigartiges künstlerisches Werk, dass er uns hinterlässt.  

Er entwickelte eine spezifische Kunst des Zeichnens, die sich durch Überzeichnungen, Überschreibungen und Übermalungen in einem kontinuierlichen Transformationsprozess befand.

Komplementär zu diesem Schaffen liebte er den direkten künstlerischen Austausch mit gleichgesinnten Kolleg*innen. Dies manifestierte sich in einer über viele Jahre fortgesetzten Schaffensserie unter dem Titel TRANS, zu der er Künstlerfreund*innen einlud, die Arbeiten der/des jeweiligen Anderen zu überarbeiten. Auch sein letztes Projekt, „Die Goldene Schnitte #1 und #2“ (2019 – 2022), ein gemeinschaftliches Schreibprojekt als vielstimmiger Roman-in-Progress, bezeugt sein Interesse, das eigene Werk in einen kollektiven Kontext zu stellen. 

Am 3. März 2023 ist die Eröffnung einer ihm gewidmeten Ausstellung im Künstlerhaus FRISE, so, wie er es sich in seinen letzten Tagen wünschte: eine Abschieds-, Gedenk- und Wiedersehensfeier für Thomas Rieck. 

Thomas Rieck (1951–2022)
zum Gedenken

Eröffnung: Fr. 3. März, 19 Uhr
Geöffnet: Sa + So jew. 15 – 18 Uhr
Dauer: 4. – 12. März 2023