KUNSTSTÜCKE
11-03-2020 / die Redaktion
Diese Rubrik widmen wir den Künstlern. Wir stellen die Arbeiten der Künstlerin Ida Lennartsson anlässlich der Ausstellung "An udder kiss" vor – (alp)traumhaft begleitet mit einem Text der norwegischen Autorin Ragnhild Aamås.
Postscript
During night time, in the west-coast village Volda, July 2016. Dreaming.
Riding a train to arrive in a small village. People seated with their backs to the windows, which are narrow and high up on the curved cold metal-sheet wall, seated like on a London or Tokyo tube. As we reach one destination: all desert. I alight. The population is centred on a cafe – much like an oasis – is serving both inside and out. Billowing light curtains, sand, a certain smell of dry and tan. Hanan with shining curly long willowy hair would like to talk with me. She asks: "inside or out?" in her crisp, elegant, full voice. My eyes sweep the place. Some furry creatures (all sacks of bone) are running about kicking up puffs of ocher dust. Their anatomy remains not clearly divisible into legs, skulls, tails, tongues, paws. Much like gears running within a systematic, repetitive structure, not visible to the naked eye, or like tumbleweeds; they bound about without purpose or end. They seem harmless. We sit outside on low benches, our backs to a dusty beige brick wall. It is shade here but not chilly. We drink a coffee as amazing as dark, thick sour fermented juice. A waiter comes by and looking in my eyes for a long time states that I am familiar to her. It cannot be, I was never here. She climbs a rope and makes some gravity exploring tricks then withdraws within the cafe. The fur-creatures keep bounding about, their skin flaky, they are pushing their poor bodies against our legs. Not asking for scraps, but placing their big bony heads near our laps, displaying large, wet teeth and gums, heaving for breath, offering up brushes. I notice the distance to the cafe has grown. A dust-covered expanse divides us from a brand of civilisation. The flesh of my thighs are soft and very biteable. I try to kick the bone-bag creatures off, disgusted. A friend rolls me a smoke, from a pack of rizla-papers, the surface covered in watercolour painted waves of lilac, blue and sharp green, which I have brought, but I do not know the art of rolling. Hanan bends down to take one of the sticks offered by the furry creatures saying: "look, it is not dangerous, it just wants us to brush off the dirt-patch". She combs through the fur and the creature nuzzles towards her, and from it a human emerges to sit next to us and smoke the dry herb and drink the juice on the bench in the shadow of the desert.
What was the human scarecrows?
Ragnhild Aamås
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aus dem Englischem übersetzt
Postscript
Während der Nacht, im Dorf an der Westküste – Volda, Juli 2016, Träumend.
Nehme den Zug um in ein kleines Dorf zu gelangen. Die Menschen sitzen mit dem Rücken zu den Fenstern, lang und schmal an der gebogenen, kalten Blechwand, wie in den U-Bahnen von London oder Tokio. Als wir das Ziel erreichen: Alles Wüste. Ich steige aus. Die Bevölkerung konzentriert sich um das Café – ähnlich einer Oase – bedient wird drinnen und draußen. Wogende Lichtvorhänge, Sand, ein gewisser Geruch von Trockenheit und Bräune. Hanan mit ihren glänzenden lockigen langen Weidenhaar möchte mit mir sprechen. Sie fragt: „drinnen oder draußen?" mit klarer, eleganter und vollen Stimme. Meine Augen durchkämmen den Ort. Einige pelzige Kreaturen (Säcke aus Knochen) rennen herum und werfen ockerfarbene Staubwolken auf. Ihre Anatomie bleibt unklar in Beine, Schädel, Schwänze, Zungen und Pfoten unterteilt. Ähnlich wie Zahnräder, die innerhalb einer systematischen, sich wiederholenden, aber nicht mit bloßem Auge sichtbaren Struktur laufen oder Heuballen, die sich miteinander verbinden aber ohne Zweck und Ende. Sie erscheinen harmlos. Wir sitzen draußen auf niedrigen Bänken, die Rücken zu einer staubigen beigen Mauer. Es ist schattig hier, aber nicht kalt. Wir trinken einen Kaffee, der so erstaunlich wie dunkler, dicker, sauer fermentierter Saft ist. Eine Kellnerin kommt vorbei und schaut mir lange in die Augen. Sie sagt, ich sei ihr vertraut. Es kann nicht sein, ich war nie hier. Sie klettert auf ein Seil und macht einige schwerkrafterforschende Kunststücke, dann zieht sie sich in das Café zurück. Die Pelzkreaturen hüpfen immer wieder umher; ihre Häute schuppen sich und sie drücken ihre armen Körper gegen unsere Beine. Sie verlangen nicht nach Essen, sondern legen ihre großen knochigen Köpfe in Schoßnähe, zeigen ihre großen nassen Zähne und Zahnfleisch, schnappen nach Luft und bieten Bürsten an. Ich bemerke, das die Entfernung zum Café größer geworden ist. Eine staubbedeckte Fläche trennt uns der Zivilisation. Das Fleisch meiner Schenkel ist weich und sehr beißbar. Ich versuche angewidert die Leichensackkreaturen loszuwerden. Ein Freund rollt mir eine aus einer Packung Rizla-Papers, dessen Oberfläche mit aquarell-farbenden Wellen aus Flieder, Blau und scharfem Grün bemalt ist. Die habe ich mitgebracht, aber ich verstehe mich nicht auf die Kunst des Drehens. Hanan bückt sich, um einen der Stöcke zu nehmen, die eine der pelzigen Kreaturen angeboten hat, und sagt: "Schau, es ist nicht gefährlich, es will nur, dass wir den Schmutz abbürsten." Und sie kämmt ihr durch das Fell und die Kreatur kuschelt sich an sie, und und aus ihr geht ein Mensch hervor, der neben uns sitzt und das trockene Kraut raucht und den Saft auf der Bank im Schatten der Wüste trinkt.
Was waren die menschlichen Vogelscheuchen?
Ragnhild Aamås
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Ragnhild Aamås (b. 1984, Volda) lives and works in Oslo. Aamås is an artist and writer, educated at Central Saint Martin’s College of Art and Design (London), the University of Oslo and the Academy of Fine Art at the Oslo Academy of the Arts. Together with Ayat Tuleubek and Ignas Krunglevicius she co-directs the artist run exhibition space Podium Oslo, which they have reimagined since 2015.
Ida Lennartsson (b. 1982, Mjölby/SE, lives and works in Berlin/DE) received her BA at the National Academy of Arts in Oslo and her MA at the Academy of Fine Arts in Hamburg. In 2019 Lennartsson was a guest professor at the HFBK, Hamburg. Her practice includes objects, video and performance. She works with the realities and makes connections between the object, its symbolic meaning, its social and economic value and the viewer's reading of it. Lennartsson focuses on the symbolic strengths of the object, which she reveals and whose universal meaning she questions.
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Ragnhild Aamås (geb. 1984, Volda) lebt und arbeitet in Oslo. Aamås ist Künstlerin und Schriftstellerin, ausgebildet am Central Saint Martin's College of Art and Design (London), an der Universität von Oslo und an der Akademie der Bildenden Künste in der Osloer Akademie der Künste. Zusammen mit Ayat Tuleubek und Ignas Krunglevicius leitet sie den vom Künstler betriebenen Ausstellungsraum Podium Oslo, den sie seit 2015 neu gestaltet haben.
Ida Lennartsson (geb. 1982, Mjölby/SE, lebt und arbeitet in Berlin/DE) erwarb ihren BA an der Nationalen Kunstakademie Oslo und ihren MA an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Im Jahr 2019 war Lennartsson Gastprofessorin an der HFBK, Hamburg. Ihre Praxis umfasst Objekte, Video und Performance. Sie arbeitet mit den Gegebenheiten und stellt Verbindungen zwischen dem Objekt, seiner symbolischen Bedeutung, seinem sozialen und ökonomischen Wert und der Lesart des Betrachters her. Dabei konzentriert sich Lennartsson auf die symbolischen Stärken des Objekts, die sie offenbart und deren universelle Bedeutung sie in Frage stellt.
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Lennartsson's "An udder kiss" investigates how the abject materiality of liquid (milk) and body (meat) is obscured by our perception of reality. The agricultural industry has managed to bring the slaughter of living beings into a purified, almost artificial and friendly form of representation. When do we lose touch with the reality of inherent violence and environmental degradation caused by the industry?
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Lennartsson's "An udder kiss" untersucht, wie die erbärmliche Materialität von Flüssigkeit (Milch) und Körper (Fleisch) durch unsere Wahrnehmung der Realität verdunkelt wird. Der Agrarindustrie ist es gelungen, das Schlachten von Lebewesen in eine gereinigte, fast künstliche und freundliche Form der Darstellung zu bringen. Wann verlieren wir den Kontakt zur Realität der inhärenten Gewalt und der durch die Industrie verursachten Umweltzerstörung?
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