ENTSCHLEUNIGUNG

17-03-2020 / Jenny Schäfer

18. März 2020 / Die Entschleunigung der Privilegierten

Wieviele Leute seit der Zuspitzung der Coronakrise schon sowas zu mir gesagt haben wie: ich genieße ja die Entschleunigung, ich genieße das ja, zu Hause zu lesen, mich auszuruhen, etc. Ich bekomme dann richtig schlechte Laune und versuche freundlich zu widersprechen und nicht ausfallend zu werden.

Denn Entschleunigung ist nämlich nicht jedermanns* Sache. Ich finde Entschleunigung sehr anstrengend, auch ohne Coronavirus. Ehrlich gesagt: ich hasse Entschleunigung. Genauso wie ich den Begriff Achtsamkeit hasse. Das bedeutet nicht, dass ich nicht gelegentlich bis regelmäßig auf diese kapitalistischen Mechanismen hereinfalle, sie genieße und verachte. I‘m part of it! 

Entschleunigung fällt bei mir unter die Sektion Wellness. Dass man sich ausruhen muss, wenn man sich angestrengt hat, ist klar, dass man eine Therapie machen kann, wenn man unter psychischen Druck gerät, weil die Welt inkl. Wirtschaft nichts von Müßiggang versteht, auch. Im Februar 1964 „warnte das amerikanische Life-Magazine vor einem bevorstehenden massiven Zeitüberfluss in der modernen Gesellschaft, der gravierende psychologische Probleme aufwerfe: „ […] How to Take Life Easy?“ […] “ („Beschleunigung“, Hartmut Rosa, 2005) bleibt die große Frage unserer Gegenwart.

Aktuell treibt ein Virus sein Unwesen, das die ganze Welt durcheinanderbringt, zum ersten Mal wurde eine weltweite Reisewarnung ausgesprochen, bisher wurde in drei europäischen Staaten der Notstand ausgerufen, zuvor in China und den USA. Zwischen Willkür, Wissenschaft, Bauchgefühl und Zuversicht versucht die Menschheit weltweit irgendwie mit der Pandemie klar zu kommen und dann sagen Leute ernsthaft: ich finde diese Entschleunigung ja ganz nett?

Ich finde diese Entschleunigung richtig beschissen. Ich liebe es morgens aufzustehen, meinen Kaffee zu kochen, zu frühstücken, Radio zu hören, mein Kind in die Kita zu bringen, dann entweder zur Lohnarbeit zu hetzen oder ins Atelier zu gehen, mal gestresst, mal easy, über die Welt nachzudenken, was man besser machen kann, was nicht so gut läuft, was überhaupt so läuft. Freund*innen zu treffen, mit meinem Kind zu spielen. Ich führe ein privilegiertes Leben im Vergleich zu vielen anderen Menschen. Jetzt, während dieses Ausnahmezustandes wird mir das nochmal klarer. Ich bin froh und dankbar, dass ich eine schöne Wohnung habe, bisher gesund bin, zwei nette Mitbewohner habe, einen ausgesuchten, einen gezeugten, ich habe die Möglichkeit ins Internet zu gehen, meinen Kühlschrank voll zu knallen, mir leckere Nudeln mit Tomatensoße zu kochen und mit meinem kleinen Sohn alle seine Autos und Pferde auf sein Bobby Car zu stapeln oder mit ihm in den Wald zu fahren oder an meinem Schreibtisch diesen Text zu schreiben, mein Geld reicht noch für den kommenden Monat, etc.

Eben habe ich mich vor der Tür mit einer Künstlerin unterhalten: sie verstehe nicht, warum alle so einen Stress machen würden, es wäre doch nur wie eine Grippe … diesen Satz habe ich im Februar gesagt, ja. Ich habe es unterschätzt, aber wenn man die Medien verfolgt, ist doch hoffentlich klar, dass das hier grade keine Grippe ist. „Ach, ihr habt zu?“ fragt sie meine Nachbarin, die eine Kneipe hat. „Dann klappt das nicht mit der Party am Sonntag?“ Ehm, nein. ES KLAPPT NICHT. Es klappt so einiges nicht. Mein ganzes Leben ist wirr. Ich bin wirr. Ich bin traurig, dass Ausstellungen nicht stattfinden können. Ganz banal, ich-bezogen. Ich bin traurig, dass ich mich nicht mehr in Freiheit bewegen darf, ganz im Klaren darüber, dass mein Alltag besonders war. Ich bin traurig, dass ich nicht mit meiner Freundin ins Restaurant gehen kann, weil das für mich selbstverständlich war. Ich bin traurig, weil ich nicht weiß, wie ich in den nächsten Monaten mein Geld verdienen soll.

Und nun ja, coronale Entschleunigung ok. Meinetwegen freue ich mich für euch, die sich zu Hause chillen können, Bücher lesen, Sachen produzieren … das ist alles cool; ich sehe auch Chancen in Krisen, versuche auch, das Beste draus zu machen und bin dankbar für die Menschen, die grade alles am Laufen halten, die aktuell an der griechischen Grenze helfen und noch überall, die sich politisch einbringen und Petitionen starten, die Nachbar*innen helfen und so weiter. 

Aber ich hoffe inständig, dass das alles schnell vorbei geht.

 

 

19. März 2020 / Die Entschleunigung der Schwachen

Alle sind ja schwach jetzt. 

Ich habe heute morgen etwa eine Stunde geheult. Anschließend habe ich beschlossen heute besonders achtsam zu sein. Hat nicht geklappt.

Ich war den ganzen Tag durcheinander, weil wir zu Hause den größten Streit der Welt hatten. Alles Mist. Geld, Rollenverteilung, sinnhaftes Arbeiten … das alles ist jetzt plötzlich ganz groß. Während wir uns gestritten haben hat L gerufen wir sollen aufhören und wer jetzt endlich mit ihm Eisenbahn spiele. Und wir würden so lange streiten wie ein Film von „König der Löwen“ (dabei kennt er den gar nicht) und sollten doch lieber so lang streiten wie ein Pixi-Buch (sehr kurze Kinderbücher). „Ihr Faulenzer.“ hat er dann noch gerufen und auf den Boden gestampft. Wir haben kurz gelacht und dann weiter gestritten.

Dann haben wir uns vertragen. Zum Glück.

Die Sonne schien schön. 

Draußen auf der Straße waren extrem viele Leute zu sehen. Habe das Gefühl, die Leute warten auf die Ausgangssperre und gehen nochmal eine Extrarunde spazieren. Louis und ich haben heute auch eine Radtour gemacht. Wir haben alle seine Spielplätze besucht und von außen angeschaut. Sie sind mit mit Absperrband markiert. Betreten verboten. Wie soll ein Kind das verstehen? Wie soll ich das alles verstehen? 

Sehe auf der Straße drei Halbstarke. Sie trinken gemeinsam aus einer Flasche Weißwein und lachen und sind eng miteinander. Ich schaue sie streng an und fühle mich spießig. Dann muss ich an die Bilder der Abiturient*innen denken, die Coronaparties gefeiert haben. Sie wurden in den sozialen Medien stark verurteilt, teils sogar mit Bild und Bierflasche gezeigt. Klar, ist das dumm, was die machen. Aber wenn ich an mich in dem Alter denke. Ich war glaub auch nicht ganz zurechnungsfähig damals.

M hat heute gesagt: „Die Dinos haben Corona auch nicht überlebt.“

In den Nachrichten haben sie heute gezeigt, wie Militärfahrzeuge in Bergamo / Italien in einer Kolonne Leichen abtransportiert haben. Das Krematorium war überfordert sagten sie und die Krankenschwester sagte „Hier ist Krieg.“. Kommt das alles auf uns zu? Wie konnte das passieren?