s’Dürl / die kleine Tür

21-07-2025 / Simone Karl

In meinem Elternhaus gibt es einen unausgebauten Dachboden. Man gelangt dorthin, indem man durch eine kleine Luke hinaufsteigt. Sie ist so mit Raufasertapete bezogen, dass sie vollkommen mit der Umgebung verschmilzt, wären da nicht die kleinen, leicht schrägen Schlitze, die daran erinnern, dass sie irgendwann zum Übergang improvisiert eingebaut wurde und schließlich die Übergangs- zur Dauerlösung geworden ist. Man gelangt durch die Luke, indem man einen halb durchgebrochenen Holzstab mit Haken am Ende in eine kleine verschraubte Öse steckt, die Luke mit einem kleinen Ruck aufzieht und schließlich eine ausfahrbare Fichtenleiter herauszieht. Ich erinnere mich, dass eben jene Leiter auf halber Strecke einen merkwürdig ungelenken Knick machte. Sie erschien mir stets wie ein gebrochenes Rückgrat aus hellem Fichtenholz und damit wie ein böses Omen auf dem Weg nach oben.

Klettert man also über die Bruchstelle dieser hölzernen Wirbelsäule hinauf, gelangt man auf einen staubigen Dachboden, dessen ewige Dämmerung nur durch ein kleines Nordwestfenster durchbrochen wird, durch welches gelegentlich ein Schein staubiges Sonnenlicht fällt. Am Rande dieses schwachen, kühlen Lichtscheins liegen immer – fast wie die Überreste eines unbekannten Rituals – ein Kreis toter Fliegen und Bienen. Es erschien mir stets wie ein Fluch, von dem diese Insekten befallen wurden, sobald sie auf irgendeinem Weg in den Dachboden gelangten. Angezogen vom einzigen Sonnenschein und einem vermeintlichen Ausweg, starben sie in eben jenem Augenblick, in dem ihre Flügel den Bannkreis des Lichtes durchbrachen. Und so wurde stets ein weiteres totes Insekt diesem Kreis hinzugefügt.

Dann denke ich an eine Hexe und die staubige Landschaft verwandelt sich sofort in ein schwer durchquerbares Areal. Ich gelange noch nicht mal bis zum Ritualkreis, der mir nun unerreichbar weit entfernt scheint. Denn zwischen der Luke, durch die ich über eine gebrochene Wirbelsäule hinaufgestiegen war und ebenjenem tödlichen Lichtkreis steht ein schmaler Kaminschacht, der meinen Blick magnetisch anzieht und mich in einer Umlaufbahn aus Grauen gefangen hält.

Solange ich denken kann, hat mich dieser schmale rechteckige Korpus mit Furcht und Faszination erfüllt. Er steht wie ein fremdes Monument im Raum und teilt den Dachboden meines Elternhauses in ein Davor, Daneben und Dahinter. Ich ging nie in das Daneben und auch nur selten in Begleitung in das Dahinter in Richtung des nordwestlich gelegenen Fensters.

Von der Luke aus kann man nur die Rückseite des Kaminschachts sehen. Begibt man sich in das Dahinter kann man den Grund meiner bis heute in meinen Knochen verankerten Furcht sehen: S’Dürl –  die kleine Tür auf der Vorderseite des Schachts.

In meiner Heimat gibt es zahllose Geister, Hexen und Dämonen, deren Namen heute fast alle vergessen sind. Es gibt keinen einzigen Google-Eintrag über sie – und wer kann das heute noch von sich sagen. Ihre Namen klingen fast wie alte Flüche, die man sich in Wut hinterherruft und dabei zugleich immer ein ungutes Gefühl im Bauch zurückbehält.
Hofamoo.
Kasaweibal.
Feiriga Moo.

Irgendwann setzte sich in meinem Gehirn die Gewissheit fest, dass in eben jenem Kaminschacht hinter der kleinen Tür eines dieser alten Hexenwesen lebt und den Dachboden für mich somit für immer in ein Davor, Daneben und Dahinter teilt. Dort krallt sich in höchster Anspannung jene, die in meiner Heimat Schloudgoaß heißt.

Schloudgoaß
D’Goaß, die im Schloud haust.
Die Ziege, die im Kamin lebt.
Goaß, Ziege, Frau.

Aber ich denke auch an Goaßl. Den Begriff für eine kleine Peitsche mit losem Ende. Goaßl. Geißel. Peitsche. Getrieben sein. Furcht.

Die Geschichte besagt, dass die Schloudgoaß sich wie ein Parasit in den Kamin presst und dort haust. Bekleidet nur mit einem zerlumpten Kittel der ihre nackten, dürren Beine hervorschauen lässt. Und mit ihren rußverschmierten Händen und Füßen, die im Vergleich zu den dürren, astgleichen Armen und Beinen froschartig ungelenk wirken, krallt sie sich in die alten Wände des Kaminschachts und presst ihr Gesicht von innen gegen die kleine Tür.

Moch s’Dürl net af.
Mach die kleine Tür nicht auf.

Am meisten fürchtete ich ihr Gesicht. Man sagt, es sei eine starre Fratze. Aufgerissene Augen, der Mund zu einem zahnlosen Abgrund verzerrt. Sie hat – ich schreibe es jetzt, weil die Geschichte es so sagt – einen hysterischen Ausdruck. Ein kaltes Bild des Wahnsinns. Die kindlich alterslose Frauengrimasse einer alleingebliebenen Frau – das Haar strähnig, der Körper dürr. Kinderlos. Bemitleidenswert. Allein im Ruß. Immerzu verdammt, den Kamin und damit die Wärme und die klare Luft der guten Familien wie ein Korken zu verstopfen und d’Gmiatlichkeit vo da Kucha und da Stubn zu dastinkern (die Gemütlichkeit der Küchen und Wohnzimmer zu verpesten).

Moch fei bloß s’Dürl net af.
Mach bloß die kleine Tür nicht auf.

 

Heute – als Frau – kenne ich neben diesen Geschichten andere Möglichkeiten und Worte, meine Umwelt und die Geister meiner Herkunft anders zu beschreiben. Ein anderes Daneben. Und während ich ein halbes Leben mit der Furcht vor dem Innen des Kamins und dem Hexenwesen darin gelebt habe, versuche ich, an dieser Stelle noch einmal eine neue Beschreibung zu finden

Wenn ich also noch einmal über die gebrochene Fichtenwirbelsäule hinaufsteige, in Richtung des Ritualkreises toter Insektenherzen gehe und mich schließlich zur kleinen Tür hinwende. Dann kann ich mir ihr Gesicht und den halbnackten rußverschmierten Körper vorstellen, der den gmiatlich’n Stuben von Bayern seit Urzeiten die Wärme und klare Luft zum Atmen nimmt. Und ich will das Gesicht nochmals anders beschreiben.

Ekstatisch.
Entrückt.
Ungezügelt.
Ungehemmt.
Rachelüstig.
Glühend.
Instabil.
Rauschhaft.
Ungeniert.
Exzessiv.
Unkontrolliert.
Sündhaft.
Alleinstehend.
Wild und frei.

Ich lege mein Gesicht, meine Augen und meine Zunge an die schmiedeeiserne Prägung der kleinen Tür, spüre die Hitze ihres hexenhaften Wahns und stelle mir ihr lachendes Gesicht auf der Innenseite vor.
Moch s’Dürl af.

 

Aus der Reihe Hexengeschichten initiert von Judith Kisner anlässlich der Ausstellung •// ✿ //• Anna Bochkova und Judith Kisner (20. März 2025 – 6. April 2025) im Kunstverein GastGarten.