Eine Hexengeschichte
14-07-2025 / Judith Kisner
Hin und wieder standen Kommilitonen vor mir mit fast leeren Ölfarbtuben und überreichten mir die spärlichen Reste mit den Worten, sie hätten die Malerei aufgegeben. Über viele Jahre sammelten sich diese Ölfarben zu einem kleinen Berg, den ich eines Tages in einen großen Topf drückte und zu einer braunen Farbe anrührte. Aus den Farbresten gescheiterter Maler malte ich 2017 eine große Hexe – „Double, double toil and trouble.“
Diese Hexe wurde meine treue Begleiterin. Wir zogen sieben Jahre von einem Atelier zum anderen: von der HfBK nach Trittau, kurz nach Düsseldorf, zurück nach Hamburg, an das Schloss Solitude (ein Schloss wie aus Das Schloss von Franz Kafka) und schließlich nach Berlin. Ich begegnete einer 100 Jahre alten Siedlung in der hessischen Rhön – eine magische Bildungsstätte namens Loheland, die von Frauen bewohnt wurde, die sich Loheländerinnen nannten. In ihrer Bewegung konzentrierten sie sich auf ihre Unabhängigkeit, auf ihre Geheimwissenschaft und auf die Verbundenheit mit ihrem Körper. Sie lebten im Einklang miteinander und der Natur auf einem Hügel in den Wäldern. Das roch nach Hexerei.
Ich schrieb der letzten dort ansässigen Loheländerin – einer damaligen Lehrerin meiner Mutter – einen langen, leidenschaftlichen Brief über meine Faszination für Hexen und Loheland. …und bekam nie eine Antwort. Ich fühlte mich alleingelassen und baute meiner Hexe 4 1/2 neue Begleiterinnen, einen Baum und einen Haufen.
Aufgeplustert und stockig warten meine Hexen, dickköpfig, auf ihrem Malerinnenpinsel darauf, die Kraft ihrer Urinstinkte wiederzuentdecken. Erwartungsvoll tragen sie ihre Ideen mit sich – Ideen von Hunden, Händen, Pflastern und Bäumen. Sie antworten nicht, sie stellen Fragen:
Glaubst du an Hexen? Was sind für dich Hexen? Bist du eine Hexe?
Sie erstellen Hexenchecklisten:
1. Hast du vielleicht eine große Nase oder seltsame Hände mit langen, knochigen Fingern? Verstösst du gegen Schönheitsnormen? CHECK / 2. Dein Alter ist suspekt? Bist du entweder zu jung geblieben oder zu alt geworden? CHECK / 3. Arbeitest du mit einem Besen oder dem äquivalent, dem Malerinnenpinsel? CHECK / 4. Braust du Unerklärliches zusammen in einer skurrilen Hexenküche? CHECK / 7. Befindest du dich in Begleitung eines mystischen Gefährten? Katze, Rabe oder – mal angenommen – ein Hund? Letzteres CHECK / 8. Hast du keine Kinder, magst du keine Kinder? CHECK / 12: Meidest du Gesellschaft(en)? CHECK / 111: Und lebst du etwa nicht nach deren Normen und Erwartungen? CHECK / 777. Bezeichnet man dich als Hexe? IMMEDIAT CHECK
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Vom 20. März bis 6. April 2025 stellten Anna Bochkova und Judith Kisner gemeinsam im Kunstverein Gastgarten unter dem Titel •// ✿ //• aus. In diesem Rahmen zeigte Judith Kisner die Collage Hexe (2025), in die der hier veröffentlichte Text eingearbeitet ist. Er erzählt ihre persönliche Geschichte und ihre Verbindung zur Figur der Hexe.
Aus dieser Arbeit heraus entstand die Idee zu einem Open Call: Weitere Künstlerinnen wurden eingeladen, eigene faszinierende, magische, absurde oder autobiografische Hexengeschichten einzureichen. Dahinter steht das Interesse an der Frage, wie häufig die Figur der Hexe in künstlerischen Arbeiten erscheint – und wie sie kollektive Momente des Zusammenkommens schafft.
Wie bereits in der Ausstellung Learning from Loheland (2023, Museum für Kunst und Gewerbe) widmet sich Judith Kisner auch hier einem Thema, das geteilt, individuell reflektiert und öffentlich gemacht wird.
Zehn ausgewählte Geschichten wurden im Rahmen des Events präsentiert – entweder von den Künstler*innen selbst oder in Form von Audioaufnahmen. In den kommenden Wochen erscheinen die Beiträge hier – beginnend mit der ersten Geschichte.
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Judith Kisner ist eine deutsch-niederländische Malerin. Ausgehend von der Malerei erweitert sie ihre Praxis um Zeichnungen, Textilarbeiten und raumgreifende Installationen. In ihrer Arbeit stellt sie unter anderem ihre Untersuchungen über ein vergessenes Kapitel deutscher Design- und Kunstgeschichte vor: Loheland, ein visionäres, feministisches Siedlungs- und Schulprojekt in der hessischen Rhön, das 1919 gegründet wurde. Loheland war beeinflusst von der Lebensreformbewegung und den avantgardistischen Ideen zur Entwicklung eines neuen Menschenbildes. Seit ihrem Artist in Residence Aufenthalt an der Akademie Schloss Solitude fokussiert sich ihre Arbeit auf die Loheländer Doggenzucht und auf die malerische Darstellung vermeintlicher Wachhunde – Tiere, die schlafen und dösen, sich unter Decken verkriechen oder scheinbar im Boden versinken. Sie tun alles, um nur nicht wachen zu müssen über das, was eigentlich verteidigt werden sollte.
Kisner studierte in der Masterklasse an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Zuvor schloss sie ihr Studium an der ArtEZ University of the Arts, Arnhem ab und studierte an der Kunstakademie Düsseldorf. Sie war als Projektleiterin im W139 in Amsterdam tätig und stellte in zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen aus – unter anderem ab dem 26. Juli 2025 im NONPLACE der Walter Storms Galerie in München.