Wer vergibt uns Schuldigern? Eine Geschichte von Schlangen, der Moderne der Schuld und dem Paradies

01-02-2016 / Sebastian van Vugt

I. Vom Ende der Disziplin

 Es ist nicht überliefert, ob Gilles Deleuze, als er sein Postskriptum über die Kontrollgesellschaften schrieb, an den biblischen Sündenfall dachte, als er den Vergleich von Maulwurf und Schlange anführte. „Die Windungen einer Schlange“, so Deleuze, seien „noch viel komplizierter als die Gänge eines Maulwurfbaus.“ * So banal diese Schlussworte seines Textes auch erscheinen, so mächtig ist doch ihre Wirkkraft auf die Frage und die Diskussionen darüber, wie sich die Gesellschaften transformiert haben. So ist es kaum verwunderlich, dass bereits der erste Satz des Postskriptums um Michel Foucault handelt. Dieser hatte, so schließt auch Deleuze, die Disziplinargesellschaften auf den Plan gebracht und ihre prozessuale Entwicklung vom 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gesehen.

Der Bruch, den Foucault zu dieser Formation dringend sah, gebar sich im Auslaufen der Souveränitätsgesellschaften, in denen ein jeweiliger Souverän über die Handlungsweisen und - maximen und somit auch die Normen entschied und danach richtete. Als das Staatstum des Souveräns sich mit dem Ende des 18. Jahrhunderts langsam verabschiedet, wird es schleichend ersetzt durch die Disziplinargesellschaften. Diesen ist es zu eigen, wie populär in Überwachen und Strafen zu sehen, dass sie über korrigierende Disziplinarstrafen, die die Folge einer akribisch hierarchisierenden Überwachungstechnik des ubiquitären Blicks (Panoptikum) sind, nicht nur normierend wirken, sondern zugleich auch Individuen selbst verfertigen sollen. Die Disziplin ist dort „die spezifische Technik einer Macht, welche die Individuen sowohl als Objekte wie als Instrumente behandelt und einsetzt.“** 

* Deleuze, Gilles (2010): „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: Rebentisch, Juliane/Menke, Christoph (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, S. 11-17, hier: S. 17.

** Foucault, Michel (1979): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 230. 

 

Harun Farocki, Arbeiter verlassen die Fabrik, DE 1995

 

Das gesellschaftliche Instrumentarium nun, das fortan aus korrigierten, also auf Norm gebrachten Individuen besteht, betont vor allem einen ökonomischen Charakter der Überwachung. Foucault hebt hervor, dass eine derartige Form der Kontrolle vor allem auf den Produktions- und Arbeitsprozess in Fabriken abziele. Auch Deleuze attestiert den Disziplinargesellschaften eine spezifische Form des Kapitalismus. Eines Kapitalismus, der noch, anders als in Kontrollgesellschaften sodann, auf das Eigentum und die Konzentration fokussiert sei. Es herrscht hier, so könnte man im Anschluss an die Beschleunigungs- und Zeitlichkeitsdebatten sagen, die Form der Karriere, die mehr oder minder als Norm vorherrscht und das Ziel verfolgt, so wenig Leerstellen wie möglich zuzulassen und die Zeit im Sinne der Endlichkeit möglichst umfassend auszufüllen. Das Leben sieht dann so aus: Geburt, Schule, Ausbildung/Studium, Ehe, Kinder, Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten, Rente, Tod. Expliziter Ausdruck einer derartigen disziplinierenden Kontrolle, die vor allem auf Steuerung hinsichtlich eines vorher definierten Ziels normierend abzielt, ist die Organisation in sogenannte Einschließungsmilieus, die die jeweils darin befindlichen bzw. organisierten Subjekte respektive Individuen zu Fällen machen. Jeder Fall bzw. jedes Subjekt wechselt in – im temporalen Sinne – Übergängen zwischen diesen Milieus: z.B. Familie, Schule, Universität, Fabrik, eventuell auch Krankenhaus oder Gefängnis.

In den einzelnen Milieus bilden sich sogenannte Mirko-Justizen. Diese entfalteten sich beispielsweise in der Zeit, der Tätigkeit, des Körpers, der Sexualität. Es geht darin um jeweiliges Richten und nicht Abrichten. Foucault kontextualisiert dies noch genauer, indem er in Der Wille zum Wissen schreibt: „Ich will damit nicht sagen, daß sich das Gesetz auflöst oder daß die Institutionen der Justiz verscheiden, sondern daß das Gesetz immer mehr als Norm funktioniert und die Justiz sich immer mehr in ein Kontinuum von Apparaten (Gesundheits-, Verwaltungsapparaten), die hauptsächlich regulierend wirken, integriert.“ *

* Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 139. 

Harun Farocki, Arbeiter verlassen die Fabrik, DE 1995
Harun Farocki, Arbeiter verlassen die Fabrik, DE 1995

 

Dass Normen die Regulierungsfunktion übernehmen ist dann kaum verwunderlich, zumal davon auszugehen ist, dass Normen im Gegensatz zu Souveränitätsgesellschaften auf bestimmten Ebenen Gesetze als Produzent sozialer Ordnung ablösen. Die Frage, der nun vor allem Deleuze weiter nachgeht ist schlichtweg: Was hat sich Mitte des 20. Jahrhunderts getan, dass eigentlich nicht mehr von Disziplinargesellschaften zu sprechen ist, sondern von Kontrollgesellschaften? 

 

II. Vom Beginn der (Selbst-)Kontrolle

Zunächst bleibt für ihn wieder metaphorisch festzustellen, dass der alte Geldmaulwurf ein Tier der Einschließungsmilieus sei. Wenn jedoch nun die Schlange herrscht, so bedeutet dies, dass derlei Milieus wenn nicht nur in einer Krise, so doch auf dem Rückzug sind. Sind jedoch diese Institutionen weniger entscheidend für die soziale, das heißt dann hier vor allem gesellschaftliche, Ordnung, so ist das gesamte Foucaultsche Konzept unterlaufen. Hatte dieser doch vor allem jene Milieus mit ihrer Bahnbrechenden Diskursivierung und Dispositivorganisation ins Zentrum der Ordnung gerückt. „Aber jeder weiß, dass diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind“,* konstatiert also Deleuze. Die Krise der Einschließungsmilieus. Die Kontrollgesellschaften seien es nun, die die Disziplinargesellschaften ablösten. Paradigmatisch lässt sich die Veränderung am ökonomischen Beispiel ablesen.

* Deleuze (2010), S. 12.

Deleuze beobachtet, dass in der Disziplinargesellschaft die Fabrik das vorherrschende Arbeits- und Organisationsorgan war. Wie bereits festgestellt, ist dort die Überwachung durch kleinteilige Aufteilung charakterisiert, die, wie auch die anderen Einschließungsmilieus, als Gussform normierend eine Subjektivierung hin zur Kreation von Individuen organisiert. In Kontrollgesellschaften werde nun aber selbst die Fabrik abgelöst durch Unternehmen. Unternehmen hätten wiederum das entscheidende Moment, dass sie mit einer Seele assoziiert werden sollten. Einer Seele, die jedoch, wie schließlich der Einzelne selbst, nicht mehr einer klaren Form unterlegen sei, sondern in stetiger Modulation sich befinde. Paradigmatisch dafür erscheint die moderne Kreativindustrie.

Der Einzelne Mitarbeiter soll sich vollkommen mit seiner Arbeit identifizieren. Was als die Auflösung von Entfremdung von der eigenen Arbeit erscheint, ist gleichzeitig auch ein Joch: stets bereit zu sein, das Leben zur Arbeit zu machen – keine Trennung mehr vollziehen zu können. Hierin ist die klassische Fabrikarbeit das Gegenteil. Eben so, schließt Deleuze, wie die Schlange sehr viel kompliziertere Windungen habe, als die Gänge eines Maulwurfbaus. Er bezeichnet auch deshalb den Einzelnen nicht mehr als individuell, sondern als dividuel, also nicht mehr hinsichtlich einer Lebenssteuerung oder eben Karrierestruktur durch Einschließungsmilieus organisiert, sondern als eher ungeplant. Hartmut Rosa nimmt dieses Argument in seine Beschleunigungsdebatte mit auf und beschreibt daraus hervorgehend die Identität, anders als eben im Rahmen der Disziplinargesellschaft, in der die Verzeitlichung des Lebens herrsche, als situativ. Diese situative Identität sei transhistorisch und müsse in der Zeit selbst entscheiden, wie es weitergehe. Diese Verzeitlichung der Zeit ist auch bei Deuleuzes Postskriptum leicht zu identifizieren. So beschreibt er, dass Marketing nun das Instrument sozialer Kontrolle sei. Die Kontrolle sei daraus schließend jedoch nicht mehr, wie noch die Disziplin auf Langfristigkeit angelegt, das heißt auf ein gezieltes normierendes Abrichten, sondern auf Kurzfristigkeit und schnellen Umsatz. 

Es tritt, hart gesagt, das ein, was Marx im ersten Satz des Kapitals ins Zentrum der Gesellschaftsanalyse stellt. Der Kapitalismus ist nicht mehr, wie noch in den Disziplinargesellschaften, auf reine Produktion und Eigentum aus. Sondern erscheint „der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, [...] als eine 'ungeheure Warensammlung'...“* Es geht in der Moderne um eine Überproduktion. Diese wiederum wird katalysiert, denn warum sollte man schon überproduzieren, dadurch, dass die Chriffre der Kontrollgesellschaften die Losung sei und nicht mehr die Parole. Es wird nichts mehr normierend oder disziplinierend befohlen, sondern ebenso wie das Unternehmen eine Seele hat, ist der Mensch persönlich verwickelt in die Seele des Unternehmens. Nur er scheint für sein Handeln verantwortlich zu sein und dies hinsichtlich einer scheinbar unendlichen Freiheit. Die Selbstkontrolle rührt von einer seltsamen Verdrehung her, die Foucault als letzten Satz in Der Wille zum Wissen unkommentiert stehen lässt: „Ironie dieses Dispositivs: es macht uns glauben, daß es darin um unsere ‚Befreiung‘ geht.“ **

* Marx, Karl (1962): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1, Berlin: Dietz, S., 49. 

** Foucault (1983): S. 153. 

 

Tyler Coburn "U", 2014 - 2016, FLUIDITY, Ausstellungsansicht / Exhibition view, Kunstverein in Hamburg, 2016 Photo: Fred Dott

 

War es bei Foucault also um eine scheinbare Befreiung durch die Explizierung von Wissen über sich selbst gegangen und eine daran anschließende Disziplinierung über Einschließungsmilieus, ist in der Kontrollgesellschaft eine Freiheit vorhanden, die sich im Selbstbezug zeigt. Jeder kann alles sein. Die Frage ist also nicht mehr „Was darf ich?“, sondern „Was kann ich?“ oder viel expliziter noch „Was kann ich eigentlich noch nicht?“ * Somit erschafft sich die kapitalistische Produktionsweise einen idealen Unterworfenen, da er sich vor allem damit identifiziert, alles sein zu können und dem entsprechend, wie Deleuze oder auch Rosa dies expliziert, nichts mehr beenden kann. Er möchte sich so viele Weltoptionen wie möglich offen halten. Oder wie Deleuze es formuliert: „Der scheinbare Freispruch der Disziplinargesellschaften (zwischen zwei Einsperrungen) und der unbegrenzte Aufschub der Kontrollgesellschaften (in kontinuierlicher Variation) sind zwei sehr unterschiedliche juristische Lebensformen.“ **

* Vgl. Ehrenberg, Alain: „Depression: Unbehagen in der Kultur oder neue Formen der Sozialität“, in: Menke, Christoph (hrsg.) und Rebentisch, Juliane (hrsg.): Kreation und Depression – Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Kulturverlag Kadmos Berlin, Berlin 2010, S. 52-62. 

** Deleuze (2010), S. 13. 

Die Überwachung von außen dringt endgültig in ihn ein und er steht bei sich selbst unter Beobachtung. Es ist keine negative Freiheit oder Macht mehr, sondern eine positive, von der schon Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes in seinem Fall über die Bauern prophetisch schrieb: „Allerdings war es Freiheit, was er gewann; aber nur Freiheit von etwas, nicht Freiheit zu etwas; allerdings scheinbar zu allem – weil sie eben bloß negativ war –, tatsächlich aber eben deshalb ohne jede Direktive, ohne jeden bestimmten und bestimmenden Inhalt und deshalb zu jener Leerheit und Haltlosigkeit disponierend, die jedem zufälligen, launenhaften, verführerischen Impuls Ausbreitung ohne Widerstand gestattete – entsprechend dem Schicksal des ungefestigten Menschen, der seine Götter dahingegeben hat und dessen so gewonnene ‚Freiheit‘ nur den Raum gibt, jeden beliebigen Augenblickswert zum Götzen aufwachsen zu lassen.“ * 
Die sich anschließende Frage ist nun: Wie vollbringen es die Kontrollgesellschaften, ihre Dividuen genau darauf zu bringen? 

* Simmel, Georg (1989): Philosophie des Geldes, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 552.

III. Schuld 

In Zeiten der großen Einschließungsmilieus, als die Institutionen auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren, formiert sich ihre Funktion als Erleichterung durch institutionelle Entscheidungen. Bei aller Disziplinierung und Kontrollierung war doch zumindest immer klar, was Recht und was Unrecht war und wie ein möglicher Problemfall zu lösen war. Paradigmatisch ist dies an der Kirche zu verstehen, die, im katholischen Sinne, über die Beichte verfügte, die den eigentlich immer schon Schuldigen von seinen Sünden entlasten konnte. Foucault hat am Beispiel der Sexualität gezeigt, dass sich im 18. und 19. Jahrhundert eine umfangreiche Kultur der Diskursivierung des Sexes entwickelt habe. Im Sexualdispositiv sei es konstitutiv gewesen, dass es eine umfassende Beichtkultur gegeben habe. Dieser institutionelle Wille zum Wissen sei eben auch ein Wille zur Macht gewesen. Es sei Ziel gewesen, die Individuen einteilen zu können. Sie zu unterscheiden. Und dann korrigierend einzuwirken. Die Beichte nun ist klassischerweise aber Ausdruck eines Schuldempfindens. Der Einzelne ist sich nicht sicher, ob sein Sex auch normal sei, so die Frage in den Disziplinargesellschaften. Also wird fröhlich gebeichtet, auch aus Furcht von der Norm abzuweichen. Norbert Elias nennt dies in seiner Zivilisationstheorie Der Prozess der Zivilisation auch den Geständniszwang. Was jedoch passiert nun, und die Frage wiederholt sich hier, wenn diese diskursivierenden Institutionen in ihrer disziplinierenden Weise zurücktreten. Wenn es nicht mehr um eine klare Steuerung geht, sondern auf die Produktivität der Planlosigkeit und Dynamik gesetzt wird, wenn der Einzelne, der ja immer im Wettbewerb ist, sich ständig von sich selbst kontrolliert fühlt, ob er auch all seine Möglichkeiten nutze? 

 

LOS ENCARGADOS, Jorge Galindo und Santiago Sierra, Gran Vía, Madrid, 15 August 2012

 

Die Schuld wird zügellos. Sie ist nicht mehr gebunden und klar definiert. Genauso wie es nicht mehr eine Freiheit von etwas gibt, kann es keine Freiheit von der Schuld geben. Es ist vielmehr eine Schuld zu etwas geworden. So schreibt auch Deleuze: „Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“ * Verschuldet jedoch nicht, weil er zu wenig macht, denn produktionstechnisch macht er so viel wie noch nie. Nur hinsichtlich seiner freiheitlich entwickelten Erwartungen eben zu wenig. So beschreibt wiederum Hartmut Rosa, der das Ganze auf Zeitstrukturveränderungen liest: „Im Ergebnis führt dies zu einer Gesellschaft der schuldigen Subjekte: Wir fühlen uns alle unentwegt schuldig. Wir hätten uns besser informieren sollen über die Pflegeversicherung, die Kleidung ist nicht genügend gepflegt, wir haben Freunde und Verwandte vernachlässigt, wir hätten längst die Gebrauchsanweisung lesen müssen, wir haben nichts für unsere Fitness, unsere Rente und unser Englisch getan, wir benutzen immer noch den falschen Telefontarif, und wir haben sogar den Schlaf, den Urlaub und die Entspannungsübungen verkürzt...“ **

* Deleuze (2010), S. 15. 

** Rosa, Hartmut (2009): „Kritik der Zeitverhältnisse. Beschleunigung und Entfremdung als Schlüsselbegriffe der Sozialkritik“, in: Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 23-54, hier: S. 42. 

Es geht also auch darum, sich ständig selbst zu perfektionieren, als ob jeder Einzelne Ausdruck des Staats selbst wäre. Aus ökonomischer Sicht ist Schuld ja auch leicht instrumentalisierbar, wenn man auf den Gedanken zurückkommt, dass das Unternehmen nun eine Seele sei, mit der sich das Subjekt identifiziere. Gamification und Quantified Self sind in dieser Hinsicht nur zwei Beispiele wie dies treffend instrumentalisiert wird. Es besteht Schuld vor sich selber, der ja im Grunde immer schon zu schwach ist, seine Erwartungen zu erfüllen, und Schuld gefühlt vor dem pränumerischen man, den Anderen, mit denen wir in der Kontrollgesellschaft im permanenten Wettbewerb darum stehen, was wir noch alles machen könnten. Die komplizierten Windungen der Schlange, die permanente Modulation der Form der Kontrollgesellschaft produziert also ein Schuldgefühl, dass uns nie enden bzw. abschließen lässt – alles wird als Möglichkeit offen gehalten. So beschreibt auch Deleuze mit Paul Virilio die „ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die die alten [...] * Disziplinierungen ersetzen“ : Denn wie könnte man wissen, dass das wirklich genug war? 

* Deleuze (2010), S. 12. 

 

LOS ENCARGADOS, Jorge Galindo und Santiago Sierra, Gran Vía, Madrid, 15 August 2012

 

Ob nun die Kontrollgesellschaften in der von Deleuze beschriebenen Form gänzlich da sind und ob die Disziplinargesellschaften schon abgeschafft sind, ist fragwürdig. Vielmehr erscheint es, als durchdringten sich beide Formen, da zwar sowohl Mechanismen der Kontrollgesellschaft wie gesehen nachvollziehbar sind, aber die Institutionen in letzter Konsequenz eben doch noch nicht irrelevant bzw. die normierenden Einschließungsmilieus eben doch noch nicht ganz abgeschafft sind. Zwar erscheint die Individualisierung auf ihrem Höhepunkt, aber eben nicht mehr dermaßen vermassend, wie noch bei Foucault beschrieben. Vielmehr hat des die Gesellschaftstransformation vermocht, über positive Machtausübung unterschiedlichste Interessenfelder in ihr kapitalistisches Marktkonzept zu integrieren. Und ob Deleuze nun an den biblischen Sündenfall gedacht hat, ist weiterhin nicht geklärt, wenngleich jedoch aufgefallen ist, dass zwischen dem Apfel, der als vermeintlicher Ausdruck einer freiheitlichen Handlung immer schon in einem produktiven Schuldgefühl enden wird, und den Windungen der Schlange nie mehr Ausdruck eines paradiesischen Zustandes sein können.