Das Hearst Castle als gebaute Hyperrealität
10-03-2019 / Nina Lucia Groß und Tilman Walther
I Prologue – Mount Olympus
“I first visited what was probably the most fabled private residence in America in the spring of 1945, after a newspaper assignment covering the formation of the United Nations in San Francisco. A car, sent by my host, met my train in San Luis Obispo, fifty miles from the Hearst property. For the last fifteen miles away we could see the castle on top of the mountain and for the last five miles we wound around the road up the mountain, passing exotic animals. We had to wait for the llamas and the kangaroos and the water buffalo to get off the road before we could continue. When the car finally drew up at the foot of a wide marble flight of stairs, the sun was sinking, a giant ruby set into the sea. Moorish style, garnished by towering palms, masses off flowers, marble statues. The vast terraces suggested nothing so much as Mount Olympus. Literally everything in sight with the exception of the Ocean belonged to Hearst. From almost any old carved balustrade you could gaze down on tens of thousands of acres of rolling pastures descending sensuously to the sea.
Nature had thoughtfully draped a shimmering mantle of brownish-gold grass over everything. Although this grassy gown was entirely natural, it looked glamorously contrived, like everything else. George Bernard Shaw once described Mr. Hearst’s house as what God would have built “had he had the money.”
At precisely 8:25 P.M., dressed now for dinner, I gave my makeup a final pat and set out for the Casa Grande. The vast terraces that separated my rooms from the main building of the castle complex were completely empty. I can still hear the click of my high-heeled dals on the polished tiles. The only other sound was the soft sighing of the wind. After nightfall, the gardens were illuminated by electric alabaster globes that cast a soft and mysterious light on the banks of flowers, clipped hedges, shadowy walls, and flights of shallow stairs. The marble gods and nymphs seemed to watch in silence from their bowers of palm and bougainvillea. Suddenly I stopped in my tracks. Before me, soaring into the inky nighttime sky and bathed in vivid golden light, were the twin cathedral towers of the Casa Grande. It had a positively unearthly magnificence. Then, without warning, a cool fog rolled silently across the terrace. I was engulfed in a perfumed mist redolent of ocean spray and tropical blooms. In minutes the edges of the world became soft and indistinct. The alabaster lamps became fairy lights, bright dots in the centers of luminous golden halos. The silence was utter. “(1)
II Das Spiel mit den Regeln
Eine blendend weiße Fassade, ein geblockter, monumentaler Bau, ein stabiler, geschlossener Hintergrund, der mit einer gotisch wirkenden Dekoration partiell aufgelockert wird, die sich um und am Portal zu einem Geflecht verdichtet. Erkennbare Einzelskulpturen, die sich in Farblichkeit, Materialität und ihrer Ausführung voneinander unterscheiden und sich doch mit der restlichen Dekoration verblenden. Putti, Löwen und Hunde, Reiter, Heilige, wild behaarte Männer, Schilder und Blüten – Sakrales, Profanes, Maurisch, Spanisch, Gotisch. Ein dunkles Holzgesims, das einen plötzlichen ruralen Gegensatz zur repräsentativen Monumentalität und den feingliedrigen Balkonen bildet, zwei sich spiegelnde Glockentürme, die verspielt, mit bunten Fliesen verziert und mit Wetterfahnen gekrönt die Fassade gen Himmel abschließen. Wir stehen vor der Westfassade des Haupthauses des zwischen 1919-1947 erbauten Hearst Castles in San Simeon, Nahe der kalifornischen Küste. Ursprünglich als Privatanwesen, gigantisches Ferienhaus und Sammlungsresidenz des Medienmoguls William Randolph Hearst gebaut und ausgestattet, wurde das Anwesen und die darin beherbergte Kunst- und Antiquitätensammlung durch die Übergabe 1957 an die California State Parks zu einer öffentlich zugänglichen Sehenswürdigkeit. Hatten William Randolph Hearst, der selbst an der Planung und Gestaltung beteiligt war und die ausführende Architektin Julia Morgan, das Anwesen zumeist pragmatisch „San Simeon“ oder „The Hilltop“ genannt, hielt sich nachhaltig die Bezeichnung als „Hearst Castle“ oder, noch poetischer „La Cuesta Encantada“. Der verzauberte Berg.
Die Fassade bildet in ihrem Eklektizismus und architektonischen Übernahmen so etwas wie ein Motto des gesamten Anwesens. In vier Gebäuden und einer großzügigen Park- und Freizeitanlange verschmelzen europäische Objekte und Relikte aus allen Epochen mit Souvenirs in allen Maßstäben, Kopien und Originale und zu Zeichen geronnene stilistische Verweise zu einem hyperrealen Ganzen.
Die Literaturwissenschaftlerin Susan Stewart schlägt in ihrer Abhandlung „On Longing“ die Arche Noah als erste Narration einer Sammlung vor: eine Welt, die repräsentativ ist, den Kontext ihres Ursprungs jedoch auslöscht. (2) Auch das gigantomanische Sammlungs- und Bauprojekt Hearsts formt durch Referenzen und Ähnlichkeiten eine Welt-in-der-Welt, oder, wie es Umberto Eco kritisch formuliert „eine Nivellierung der Vergangenheit auf das zu lebende Heute, das [...] jedoch als lebenswert nur erschien, wenn es garantiert ‚wie früher’ war.“
Dieser Text soll jedoch gerade die Brüchigkeit, Widersprüchlichkeit und maßlose Übertreibung der hyperkulturellen Inszenierung des Hearst Castles nachvollziehen. Das Spiel, das hier gespielt wird, ist weder Domino, noch ein Puzzle. Gleiches wird nicht an Gleiches gelegt und die einzelnen Teilchen ergeben kein schlüssiges Ganzes. Das Spiel der Sammler*in, die Lust an der Vollständigkeit, an der Abgeschlossenheit, an der ganzen Reihe, der runden Sache, der funktionalen Formenfamilie – dieses Spiel wird im Hearst Castle radikal durchkreuzt. Hier wird geschummelt, überholt, ausgesetzt, in jedem nächsten Spielzug die Regeln neu bestimmt.
Die Regeln, mit denen dabei gebrochen wird, sind unter anderem die des guten Geschmacks, die der seriösen Kunstgeschichte, der materiellen Ehrfurcht, der ästhetischen Zurückhaltung. Es sind auch die Spielregeln des Orts an sich, wie sie zum Beispiel 1992 von Marc Augé als Regeln des anthropologischen Orts definiert wurden.
III Orte und Nicht-Orte
Von einem ethnologischen Blickwinkel ausgehend, besitzt der anthropologische Ort bei Marc Augé mehrere Ebenen und ist durch mindestens drei Merkmale gekennzeichnet: Er ist identitätsstiftend, relational / beziehungsstiftend und historisch. (3)
„Historisch ist der Ort notwendig von dem Augenblick an, da er sich in der Verknüpfung von Identität und Relation durch ein Minimum an Stabilität bestimmt. Er ist es um so mehr, als diejenigen, die dort leben, Merkzeichen zu erkennen vermögen, die nicht das Objekt von Erkenntnis zu sein brauchen.“ (4) Der anthropologische Ort benötigt also eine lesbare Symbolik und Sprache, die gesprochen und verstanden wird – er ist eine konkrete Örtlichkeit, die eine stabile kulturelle Identität konstruiert, repräsentiert und weiter behauptet.
Als Gegenspieler zum anthropologischen Ort ruft Marc Augé wohlbekannt den Nicht-Ort auf den Plan. „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.“ (5) Alle Transiträume (z.B. Flughäfen, Bahnhöfe, S-Bahnstationen), alle Orte, die als Folge einer sich ausdehnenden Infrastruktur entstehen (z.B. Tankstellen, Autobahnen, Raststätten, Einkaufszentren, Hochhaussiedlungen an Stadträndern, Hotels), sowie Orte, die Freizeit- und Konsumzwecken gewidmet sind (z.B. Freizeitparks, Bars, Ferienhäuser, Shopping Malls) benennt Augé als Nicht-Orte. Auch virtuelle Kommunikationsräume („Bildschirme und Leinwände aller Art, Wellen und Kabel“ (6)) benennt Augé als Nicht-Orte und bezeichnet sie als „kompliziertes Gewirr der verkabelten oder drahtlosen Netze, die den extraterrestrischen Raum für eine seltsame Art der Kommunikation einsetzen, welches das Individuum vielfach nur mit einem anderen Bild seiner selbst in Kontakt bringt.“ (7)
Der Nicht-Ort ist für Augé Produkt und Phänomen der Übermoderne, einer Steigerungstufe der Moderne, deren wichtigstes Kennzeichen das Übermaß ist: das Übermaß an Ereignissen, Informationen und Erzählungen, das Übermaß an Räumen, Wegen und Ebenen und das übermäßig gesteigerte Bedürfnis nach Individualisierung. (8) „Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit“ (9), schreibt Augé und in dieser Absolutheit kommt einem das aus heutiger Perspektive auch etwas albern vor, spricht der Autor da nicht allzu deutlich von seiner eigenen Einsamkeit in den Architekturen des Heute, das Unbehagen des Anthropologen, dessen Gegenstand sich, ganz ohne nochmal nachzufragen, verselbstständigt hat.
Kommen wir aber zurück zum Schloss in Kalifornien: Wenn also die Nicht-Orte, die Kreisverkehre und Einkaufszentren, in ihrer Referenzlosigkeit und Beliebigkeit mit den anthropologischen Orten brechen, auf welche Weise tut es aber dann ein Ort wie das Hearst Castle? Das Schloss ist nicht identitätslos – vielmehr ruft es multiple Identitäten auf. Seine Erzählungen sind nicht die abwischbaren, stoßfesten Oberflächen eines Einkaufszentrums, seine Erzählungen sind die komplizierten, intimen, anmaßenden, staubigen, klebrigen Tiefen und Höhlen einer überdimensionalen Gleichzeitigkeit und Ortlosigkeit.
IV Gleichzeitigkeit und Überdimensionalität
Im Folgenden möchte ich diese Gleichzeitigkeit und Überdimensionalität an einem konkreten Beispiel festmachen. Das Überdimensionale scheint schon auf den ersten Blick als Schlagwort zu dem Privatanwesen mit übermusealen Ausmaßen zu passen: die großzügigen Proportionen, der gigantische Umfang der Sammlung und des Grundstücks, der visuelle Eindruck der Überfülle, der Übergröße, des Kolossalen, Opulenten und Monumentalen.
Liest man „Dimensionen“ allerdings auch als den Ausdehnungsraum von Bedeutungen, Eigenschaften und der inhaltlichen Zuordnung bestimmter Elemente, lässt sich das Überdimensionale des Hearst Castles vor allen Dingen in dem Neben- und Übereinander verschiedener zeitlich und räumlich unterschiedlich codierter Ebenen und Elemente fassen. In Sinn- oder auch Unsinn-stiftenden Konstellationen, Arrangements, Überlagerungen und Übertreibungen wird die Eindeutigkeit von den Dimensionen Raum und Zeit zugunsten einer Ortslosigkeit und Gleichzeitigkeit aufgelöst und die Dimensionen der kunsthistorischen Einordnung von Aura, Ursprung und Echtheit zerstreut.
V Freizeit und Ursprung – Byzanz und Rom
Widmen wir uns also beispielhaft dem Außenpool der Anlage. Der Neptun Pool wurde ab 1924 immer wieder umgebaut und stetig vergrößert, in seiner finalen Version wurde er in den Jahren 1934-36 fertig gestellt. Das mit Marmor ummantelte Becken ist von neoklassizistischen Pavillons und Kolonnaden umgeben. Das Mittelstück der Hauptachse am Nordende des Pools wird von der Fassade eines römischen Tempels dominiert. Der römische Pavillon ist ein Komposit aus verschiedenen Fragmenten, sowohl original antik römischer aus dem 1.-4. Jahrhundert nach Christus (Säulen, Kapitelle, Teile des Gebälks und des Giebels), die Hearst aus Europa anliefern lies, als auch zeitgenössischer Ergänzungen, gestützt durch ein Beton-Fundament mit Kunststeinfries. Im Giebel wurden eine Neptun- und eine Nereid-Statue aus der Renaissance zu einem Relief montiert.
Die Tempelfassade wird symmetrisch von zwei Kolonnaden-Gängen umrahmt, die an der West und Ost-Achse des Pools entlangführen. Die Kolonnaden wurden von Julia Morgan entworfen und von der Vermont Marble Company in Marmor und stahlverstärktem Beton ausgeführt. An den Seiten der Kolonnaden befinden sich klassizistische Basreliefs aus dem 17. Jahrhundert, die Halbportraits von Dichtern und Philosophen zeigen. In den Kolonnaden und an den Treppen dienen überdimensionierte Kunststein-Hermen als Basis zur elektrischen Lampen-Beleuchtung des Pools. Sie wurden nach dem Vorbild einer griechisch-römischen Doppelbüste modelliert, die Hearst besaß und in der Bibliothek des Anwesens zeigte, und vor Ort gegossen.
Das weitere Skulpturenrepertoire, das den Pool schmückt, wurde fast ausschließlich von Charles Cassou entwickelt, ein Pariser Bildhauer des frühen 20. Jahrhunderts. Drei Gruppen wurden bei ihm von Hearst in Auftrag gegeben, eine kolossale Neptun-Statue, ein Diana-Brunnen und eine Geburt der Venus. Die Venus-Gruppe war es schließlich, die nachdem sie im Pariser Salon von 1930 ausgestellt wurde, ihren Weg tatsächlich nach San Simeon fand. Der Diana-Brunnen wurde nie vollständig fertiggestellt, und der Neptun verblieb, noch unbezahlt, in Hearsts Kunst-Lagerhallen in New York.
Auch wenn die kompliziert-romantischen Skulpturengruppen eher an Pariser Modelle des späten 19. Jahrhunderts denken lassen – der Grundriss des Pools kann so als ein vereinfachtes Schema von Paul Abadie’s Sacre Coeur gelesen werden – ist das unübersehbare Motto des Pools ein römisches Bad. Ein übrigens nicht unübliches Thema in dieser Zeit, so empfiehlt auch die Kunstreporterin der „Town and Country“ Augusta Owen Patterson 1924 in ihrem Buch „American Homes of Today“ „swimming pools should recall the memory of Roman antecedents.“ (10)
Die einzelnen Elemente, ob historisch oder zeitgenössisch, legen in der Gesamtheit des Neptun-Pool-Ensembles ihre jeweilige konkrete Provenienz und Zugehörigkeit ab, sie werden als Zeichen und Agenten einer Gesamt-Narration anonymisiert. Gegen Westen gerichtet ruft der Pool in aller Überdeutlichkeit so das klassische Rom auf, die Wiege der „alten Welt“. Der Neptun Pool bildet damit den Gegenpart zum zweiten Pool des Hearst Castles, dem überdachten Roman Pool, der nach Osten zeigt und das Byzanz evoziert.
Bereits Mitte der 20er Jahre hatte Hearst die ersten Ideen zu einem Salzwasserpool, ergänzt durch ein exotisch-maurisches Badehaus aus Glas und vergoldeten Eisen: „We would have the South Sea Island on the Hill. Here we could serve tea or poi, or whatever the situation called for. The pool, of course, would be the main attraction; and we might put a turtle and a couple of sharks in to lend verisimilitude.“ (11) Diesen Brief an Morgen schloss Hearst mit einer simplen Bemerkung, die die Idee des Ornaments des ganzen Hearst Castle auf den Punkt bringt. „This, except for the sharks, is not as impractical as it might seem. It is merely making a hot-house useful, and making a pool beautiful.“ (12)
Der „Roman Pool“, wie er dann in den 1930er gebaut wurde, ruft tatsächlich die Assoziation einer exotischen Welt auf; jedoch weniger die der Südseeinseln als die des byzantischen Reichs. Die Wände des T-förmigen römischen Bads und das Becken, das an der tiefsten Stelle 3 Meter tief ist, sind mit Mosaiksteinen aus Murano Glas überzogen, inspiriert von den Mosaiken in Ravenna aus dem 5. Jahrhundert, die Hearst mehrmals besucht hatte.
Gerahmt wird das Becken von Skulpturen – an den Längsseiten Kopien klassizistischer Statuen, am schmalen Kopfende eine italienische Statue aus dem 17. Jahrhundert. Die Steine für den Pool wurden auf 1 · 1 Meter großen Blättern in San Francisco gelegt und dann nach San Simeon transportiert und dort angebracht. Der Prozess nahm 3 Jahre in Anspruch und wurde von Julia Morgan wöchentlich inspiziert.
Joseph Giarritta, ein Fliesenleger, der am Mosaik im römischen Bad gearbeitet hatte, berichtet über den Prozess wie folgt: „When I first started setting the mosaic (moseic), I had a section up, the mortar was still soft. Miss Morgan said it look too perfect, and she wanted us to try to figure a way to make it look older but still perfect. I suggested I bang my fist in it in different parts of the panel, change the smooth face oft he mosaic (moseic) with the small depressions here and there. She said, try it. I did, and she said that’s just what she wanted. I continued that procedure all along until we finished the pool.“ (13)
Die Idee, eine Authentizität, eine Glaubwürdigkeit und zugleich eine immersive Erfahrung zu vermitteln, brachte Hearst auch dazu, nach der Fertigstellung das Becken mit Salzwasser zu füllen – bzw. 18 Tonnen Salz in das Poolwasser kippen zu lassen – entgegen der Warnungen seiner Berater*innen, Klempner und Bauaufseher. Die Leitungen, das Abflusssystem und Dichtungen waren nicht auf Salzwasser ausgerichtet, und mussten nach kurzer Zeit ausgetauscht werden.
VI Die Reinszenierung eines Nie-Dagewesenen
Auf den ersten Blick ähneln die Poolanlagen des Hearst Castles sogenannten Themen-Architekturen, wie wir sie aus dem Kosmos der Vergnügungsparks, Casinos, Hotels, Restaurants kennen und sie gerade in Kalifornien besonders weit verbreitet sind – diese kommen aber ganz ohne historische Versatzstücke aus und entwickeln daher sowohl ohne die Einschränkungen als auch ohne die auratische Authentizität historischer Objekte eine hyperreale Erzählung. Tatsächlich weißt der Außenpool des Cesars Palace in Las Vegas verblüffenden Ähnlichkeiten zum Neptun Pool des Hearst Castles auf – die Springbretter und Leitern sind hier aber mit Goldfarbe überzogen und das dekorative Ornament ausschließlich aus Beton gefertigt.
Im Neptun Pool bleiben die unterschiedlichen Herkunftszeiten und -orte zwar sichtbar, deren konkrete Zuordnung wird aber zugunsten einer möglichst kohärenten Pseudo-Erinnerung an eine fiktionalisierte Zeit des unbeschwerten Reichtums, der idealen Schönheit und des privilegierten Vergnügens aufgelöst. Sie tragen formale und ästhetische Marker einer vage umrissenen römischen Geschichtlichkeit, die dabei aber zugleich natürlich allen modernen Anforderungen und Bequemlichkeiten des sich vergnügenden Volks genügt.
Peter Krieger beschreibt in seinem Band „Visual Epidemics“ in den durch Reduktion und Nivellierung geprägten neo-barocken Unterhaltungspalästen von Las Vegas eine „Klärung“ der soziokulturellen Widersprüche der Ursprünge und Leihgeber der architektonischen Vorbilder. Die Pyramiden am Las Vegas Strip sind sowohl „bereinigt“ von ihren historischen Produktionsbedingungen der Sklaverei als auch von der zeitgenössischen Armut und den politischen Bedingungen Ägyptens, das New York-Casino schließt die Überfälle, den Drogenhandel und das Chaos der realen Metropole aus, die Fake-Kanäle des Fake-Venedigs stinken weder, noch wird ihr Wasserspiegel durch Klimaerwärmung oder Kreuzfahrtschiffe beeinflusst. (14)
Auch der Neptun Pool des Hearst Castles ermöglicht das unbedenkliche Abtauchen in eine ungefährlich weil unwidersprüchlich gewordene Vergangenheit.
Am Neptunpool vollzieht sich jedoch kein eindimensionales 1:1 Theming, das Setting ist keine akkurate Kopie, vielmehr eine Collage ähnlicher Elemente, die nicht stilistisch oder historisch-verwandt sind, sondern eher durch eine emotionale Affinität miteinander verbunden sind. Thomas A. P. Leeuvwen benennt diese Strategie in seiner „Intimate History of the Swimming Pool“ mit „thematic clustering“ und führt aus: „thematic clustering is a technique of mixing themes and moods rather than styles“ (15).
Spätestens die modernen Skulpturen Cassous machen das deutlich; sie rufen nicht das alte Rom auf, sondern die romantischen neoklassizistischen Bilder des US-amerikanischen Malers und Illustrators Maxfield Parrish, ein Zeitgenosse Hearsts, den dieser sehr schätzte und für die Gestaltung seiner Magazine mehrmals beauftragte. Die Vorlage, das Original, auf das der Neptun Pool referiert, ist also eine bereits übersetzte Imagination, ein Abbild des zeitgenössischen Erinnerns und Imaginierens an sich – ein Erinnern, das sich immer auch mit dem Hier und Jetzt verbindet.
Charles Cassou schlug noch weitere freistehende niedrige Einzelfiguren vor, die sich im Poolbecken verteilen sollten. Cassou dachte damit in Kategorien der Brunnengestaltung, weshalb seine Entwürfe von Morgan und Hearst auch abgelehnt wurden – anstatt eines Brunnens sollte hier schließlich ein tatsächlicher Pool gestaltet werden, niedrige Einzelfiguren würde die Nutzbarkeit, das Schwimmen, beeinträchtigen. Statt Nymphen und Wassermännern aus Marmor sollten in Folge Hollywood Stars und Starlets – lebendige Versionen der idealisierten Statuen – bei Hearsts Poolpartys das Wasser bevölkern – und die Fiktion des Pools so Tag für Tag weiterschreiben, während die Kolonaden den Ausblick auf die kalifornische Landschaft rahmen und so den fiktionalisierten mit dem realen Ort verkoppeln.
Die Behauptung des Pools ist weder die des dekorativen Brunnens, noch die des rein funktionalen Schwimmbeckens, sondern ein Dazwischen, es ist eine Bühne, ein Setting für die theatrale, performative, belebte Aktivierung und Reinszenierung eines Nie-Dagewesenen. Thomas A. P. van Leeuwen beschreibt die Pools des Hearst Castles wie folgt: „Of course, judged solely as large tanks to swim in, the two pools are colossal architectural overstatements, but as bathing palaces, as theaters of physical entertainment, they are in the same league with Charles Garnier‘s Opera in Paris, Gottfried Semper‘s Opera House in Dresden, indeed with almost any other great architectural feat of the immediate past.“ (16)
Die historisierende Kulissen-Artigkeit des Pools löst sich geradezu bildhaft ein, als Stanley Kubrick 1959 einen Teil seines „Spartacus-Films“ auf dem Anwesen dreht. Die Neptun-Pool-Anlage wird zur Villa des Patrizier Crassus, die Imagination einer unbestimmt-römischen früheren Zeit in der Fiktion des Films zu einem historischen konkreten Ort.
In Lady Gagas Musikvideo G.U.Y. von 2013 dient das Hearst Castle wieder als Kulisse einer zugleich historisierenden wie futuristischen Narration und der Neptun Pool als Tempel, als Ort der Gottesansprache – auch der Roman Pool wird zum Drehort und dient als Liebes-und Luxusgrotte der Protagonistin. Wird bei Stanley Kubricks Spartacus dem Hearst Castle so etwas wie eine glaubhafte Authentizität zugesprochen, wird in Lady Gagas Video der artifizielle Manierismus und Eklektizismus des Anwesens weiter ins Fantastische gesteigert. In beiden Fällen wird das Setting als neuer Ursprungspunkt gewählt, der gerade in seiner Künstlichkeit und Unversehrtheit überzeugt – der Neptun Pool ist ein Ort der Hyperrealität, wie sie Jean Baudrillard in den 1970er Jahren als „charakteristische Hysterie unserer Zeit“, beschrieben hat, die sich um „die Produktion und Reproduktion des Realen“ (17) dreht und so zu einem Simulacrum der Realität selbst wird – einem idealisierten Abbild, einer Imitation, gegen die der eigene Ursprung verblasst. Stanley Kubrick hätte in ganz Italien keine so makellose – und damit glaubwürdige – Kulisse finden können, wie er sie am Neptun Pool vorfand. Durch ein eindeutiges – wenn auch sehr assoziatives – Theming schafft der Neptun Pool eine hyperreale Rückschau, die keine akkurate Kopie des tatsächlichen Roms abzugeben versucht, sondern die ver-räumlichte Imagination, ein begehbares Abbild der Verheißungen und Sehnsüchte der fiktionalisierten Erinnerung.
Heute besuchen jährlich 750.000 Menschen das Hearst Castle, Tourist*innen aus der ganzen Welt und Ausflügler aus Kalifornien, Schulklassen und Kaffeefahrten: 25 Dollar kostet die Teilnahme an einer der geführten Touren über das Anwesen. In den Außenanlagen, so auch am Neptun Pool, kann man sich anschließend frei bewegen; das Schwimmen ist jedoch untersagt – aus der Logik eines Museums, einer konservierten Sehenswürdigkeit ist das selbstverständlich. Heute ist der Neptun Pool also nicht nur die ver-räumlichte Imagination einer römischen Dekadenz, sondern auch Denkmal und Ausstellungsstück einer kalifornischen Ursprungserzählung der goldenen 20er, der megalomanen Aufbruchsstimmung des 20. Jahrhunderts, Museum einer biografischen Erzählung, historisches Monument, nationales Maskottchen.
Welches Spiel wird hier gespielt? Oder besser: wie wird hier geschummelt? Historische wie zeitgenössische Stücke werden nebeneinandergestellt und gehen gemeinsam in die Erzählung ein – sie verbindet manchmal eine vage Ähnlichkeit, ein inhaltlicher Bezug, manchmal gelangen sie durch Zufälligkeit an den selben Ort – genau lässt sich der Pool dabei nicht in die Karten schauen. Fiktive und reale Örtlichkeit verbinden sich zu einem Dritten, ein Vexierbild, das dauernd kippt. Kalifornien der 20er Jahre, Rom, die Villa des Patriziers, Lady Gagas Poolparty, Ceasers Palace in Las Vegas, Freilichtmuseum, Sehenswürdigkeit.
VII Barbarische Größe oder postmoderne Hyperkultur
Umberto Eco besuchte das Hearst Castle Anfang der 1980er Jahre auf seiner „Reise ins Reich der Hyperrealität“ und zeigte sich erschüttert von der „Nivellierung der Vergangenheit“ und dem „besessenen Wille, nirgendwo einen Fleck zu lassen, der nicht an irgend etwas erinnert“ dem „Meisterwerk einer vom Horror vacui besessenen Bastelei, der Unwohnlichkeit, die aus der überdrehten Abundanz resultiert.“ (18) Mit dem Ekel des europäischen Kulturkritiker-Adels mischt sich sogleich auch die eigene Angst Ecos, womöglich selbst der „Faszination dieses Dschungels von venerablen Schönheiten zu erliegen, denn zweifellos hat er einen eigenen wilden Geschmack, eine eigene pathetische Wehmut und barbarische Größe und sinnliche Perversität und mit der Ansteckung atmet er auch den Geist der Lästerung, der Schwarzen Messe – wie wenn man in einem Beichtstuhl bumst, mit einer Nutte im Priesterkleid, auf den Lippen Verse von Baudelaire, während zehn elektrische Orgeln das Wohltemperierte Klavier verströmen, gespielt von Skrjabin.“ (19)
Das Unbehagen, die Platzangst, der sowohl klebrige als auch staubige Grusel des Anwesens beschreibt Umberto Eco als eine lästernde, obszöne Anmaßung und nicht umsonst spielt Eco auf die Profanisierung des Sakralen an: tatsächlich geht das Anwesen auf die Gestalt einer Kirche zurück, Julia Morgans Vorlage für das Haupthaus war schließlich Kirche samt Kirchturm im spanischen Ronda, und auch der endgültige Grundriss des Gebäudes ist als Doppelkreuzform mit Querschiff im Osten erkennbar. Der Speisesaal des Schlosses wird „Refectory“ – „Refektorium“ genannt, auch wenn hier den Gästen zumeist BBQ auf Papptellern serviert wurde, eine schnelle Mahlzeit kurz vor dem Billard Spiel oder der Kinovorführung zwei Räume weiter. Und so blickt die Fassade des Haupthauses mit ihren Kirchtürmen und Heiligen-Büsten und der Marienstatue auf den prahlerischen Neptun Pool, Becken und Bühne des Vergnügens. Das Perverse liegt in der radikalen Mischung der sakralen wie profanen Symbole und Funktionen – einem Umberto Eco ist dabei aber nicht nur das tatsächlich sakrale Programm heilig, sondern alle authentischen Kunstwerke, europäische Reste und Exempel und Schätze, die sich in der Sammlung Hearsts mit dem Profanen, der Fälschung, dem Kitsch, der Massenware verbinden.
Byung-Chul Han liest 2006 die eigenwillige Akkumulation und den radikalen Pastiche von Objekten und Formen unterschiedlichster Stile, Herkunft, Zeitalter und Kulturen positiv-affirmativ als ein ästhetisch produktives Unternehmen. Bei ihm wird das Anwesen gewissermaßen zu einer „musealen Vorschau der Hyperkultur“ (20), wie sie spätestens durch die entgrenzten virtuellen Medien vollständig entwickelt wurde und die sich durch „das abstandslose Nebeneinander unterschiedlicher kultureller Formen.“ (21) auszeichnet. Umberto Ecos und Byung-Chul Hans Texte stellen zwei der sehr seltenen Erwähnungen des Hearst Castles in europäischer Kulturtheorie dar – sie beide gehen von der Beobachtung der Gleichzeitigkeit aus, und kommen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen – was Umberto Eco als perverse Geschmacklosigkeit und mangelndes Geschichts- und Kulturverständnis erklärt, dem schreibt Byung-Chul Han das Potenzial eines unhierarchischen Postmodernismus zu.
IIX Unendliche Weite – Unendliches Kapital
Wie und warum, kann man fragen, kam es zu einer solchen Häufung dieser expliziten Methoden der Aneignung, der Akkumulation und Übertreibung als wesentliche ästhetische Strategien im Hearst Castle, das unserer heutigen europäischen Perspektive Verwunderung, Staunen und Entsetzen zugleich zumutet – fasziniert, belächelt und diskreditiert wird.
Als den Beginn einer Antwort kann hier nur ein kurzer Blick auf den geschichtlichen und geographischen Kontext, sowie die identitätsstiftende Funktion des Anwesens geworfen werden. Hearsts Sammlungstätigkeit kann als exemplarisch für eine Tendenz seiner Zeit betrachtet werden. Das Vermögen, das im Gilded Age des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit der fortschreitenden Industrialisierung und zügelloser Wirtschaftsspekulation von Amerikas Eisenbahnmagnaten und Öl- und Stahlbaronen erwirtschaftet wurde, floss in ein beispielloses „Kulturbedürfnis“. Werke aus der „alten Welt“, das sich zwischen den Weltkriegen befindende Europa, fluteten den Kunstmarkt der „neuen Welt“ in einem beispiellosen Ausmaß – und der durch seine „Grand Tours“ mit der europäischen Kunst bereits vertraute Geldadel Amerikas erwarb die Objekte, teilweise mit dem Anliegen, eine professionelle Sammlung oder gar ein Museum aufzubauen, teilweise mit dem Wunsch, die eigenen Privaträume damit zu schmücken. Der Kultur- und Geschichtsüberfluss Europas, der in den Weltkriegen zu kollidieren schien, traf mit dem finanziell mächtigen Amerika auf eine dankbare Abnehmerschaft, eine Peripherie, der zum Kapital die Leitkultur fehlte. Hatte Hegel Anfang des 18. Jahrhunderts das Verhältnis von Europa zu Amerika mit dem Verhältnis von Hamburg zu Altona verglichen, Amerika als einen „Vorort abgewanderter Gewerbetreibender, der doch wie ein Neugeborenes „Ausdruck fremder Lebendigkeit“ war, beschrieben und damit vor Allem die staatliche Souveränität gemeint – so holt der Vorort 100 Jahre später die Hauptstadt ein – und markiert dies zu allererst durch eine ästhetische Mimikry, durch die Übernahme und Aneignung europäischer Kunst.
Kalifornien nun wurde erst 1850 als 31. Bundesstaat in die USA aufgenommen und beendete die kontinentale Ausbreitung gen West auf dem Festland, die Pazifikküste war erreicht. Als jüngster kontinentaler Bundestaat, maximal weit entfernt von der urbanisierten Ostküste, erstreckt sich hier eine doppelte kulturelle Peripherie – weiter Raum, der nicht nur bei Hearst den von Eco diagnostizierten „Horror vacui“ auslöste und sich als Vexierbild verschiedenster Narrationen anbietet – nicht umsonst fand auch hier Hollywood sein Zuhause, eröffnete hier 1955 das erste Disneyland und liegt in der angrenzenden Wüste von Nevada die Spektakel-Hauptstadt Las Vegas.
Mit dem spanischen Formenvokabular – so stammen zum Beispiel alle historischen Stücke der Westfassade aus Spanien und die Gestaltung der zeitgenössischen Dekoration bezieht sich auf spezifische spanische Vorbilder – wird im Hearst Castles nicht nur die alte Welt Europa aufgerufen, sondern auch ganz konkret die spanische Kolonialmacht.
Hearst, der um San Simeon über 1000km2 Grund, davon 23km Küste besaß, reiht sich damit mit der Gestaltung seines zwar privaten aber dabei dennoch repräsentativen Anwesens durch ikonografische und materielle Übernahmen in eine Ahnenreihe der besitzenden und gestaltenden Mächte ein. In den Bemühungen, einen Ort zu schaffen und sich kulturell einzuschreiben, werden dabei die Agenten und Codes unterschiedlicher anderer, bereits existierender oder imaginierter Orte und Zeiten bedient und überlagert.
IX Komposthaufen-Ethik
Kulturprodukte sind und waren immer schon Produkte eines Verdauungs- und Kompostierprozesses, sie sind Derivate, Umschöpfungen von bereits Vorhandenem. Ob Spolien oder Souvenirs, ob Zitate, Übernahmen oder Kopien, ob kolonisatorische oder globalisierte Praxis, Klassizismus oder Postmoderne: nie wird Architektur oder Kunst wie ein frisches Ei ganz alleine gelegt.
Das gibt auch Umberto Eco zu, wenn er das Hearst Castle für die Gleichzeitig von Vergangenem und Gegenwart entschuldigt, denn „so verfuhren im Grunde auch schon die Feudalherren alter Zeiten beim Anhäufen ihrer seltenen Stücke, und das gleiche Stilgemisch herrscht in vielen romanischen Kirchen mit barockisiertem Altar und womöglich einem Glockenturm aus dem 18. Jahrhundert“ (22)
„Das Abstoßende“, so Umberto Eco, „ist vielmehr die wahllose Raffgier, mit der es sich alles einverleibt hat, was es kriegen konnte“. (23)
X Zauber und Flüche
Dieses Unbehagen der Beobachter*innen und Besucher*innen, diesen Grusel vor dem materiellen Überfluss sowie die Personifizierung des Schlosses als wesendes, sich alles verschlingende Ding, hat Orson Welles bereits 1941 in seinem Film Citizen Kane aufgegriffen und umgekehrt, indem er William Randolph Hearst als manisch-cholerischen Milliardär Kane portraitiert und das Hearst Castle als das verfluchte Schloss Xanadu, in dem die Dinge und Schätze irgendwann die Oberhand gewinnen und Charles Foster Kanes Verstand unter sich begraben.
Apropos Begraben: Das prächtige, überfrachtete wie zerbrechliche Schloss des realen William Randolph Hearst sitzt quasi rittlings direkt über der San Andreas Verwerfung – auf bewegtem, prekären, jederzeit einstürzenden Boden, an der Klippe zum pazifischen Ozean. Julia Morgan ließ deshalb das gesamte Mauerwerk und jede einzelne Säule, jeden Torbogen und jeden Brunnen mit Stahl verstärken, das äußere antike Ornament durch moderne Ingenieurstechnik von innen stärken, so dass das Anwesen, auch nach mehreren Erdbeben – das letzte und heftigste im Jahr 2003 mit einem Epizentrum direkt in San Simeon und einer Stärke von 6.6 – unbeschädigt auf der Hügelkette ruht.
Umberto Eco ruft kulturpessimistisch und amerika-kritisch die Besessenheit im direkten Sinne eines Begehrens des Besitzens auf, ein Begehren, so ergänze ich, das notwendigerweise auch als ein koloniales und imperiales Begehren gelesen werden muss – diese Besessenheit, bildhaft geworden in der kumulativen Ästhetik, löst sich in den Über-Dimensionalen Ausmaßen zu der von Byung-Chul Han vorgeschlagenen quasi-virtuellen, aber dabei niemals hierarchielosen und gewaltfreien, Ordnung der Gleichzeitigkeit und Ortlosigkeit ein – und dient dabei als zugespitztes, schonungsloses Exempel der Kulturpraxis an und für sich.
Kultur und ihre Geschichte ist ein Komposthaufen. Er lässt sich unglaublich vielfältig bearbeiten. Man kann die Eierschalen und Teebeutel darin untersuchen und ihre Provenienz feststellen. Man kann botanisch feststellen, dass etwas wächst und etwas verrottet. Man kann die Holzlatten, die den einen Komposthaufen vom nächsten trennen, erneuern oder abreißen. Europäische Intellektuelle wie Umberto Eco sagen beleidigt: „Hearst weiß nichts von Eierschalen und Teebeuteln. Sie gehören nicht zusammen auf den Haufen.“ Doch diese Kritik greift ins Leere, denn es geht Hearst nicht um die Eierschalen und die Teebeutel. Es geht ihm um den Humus, dem Nährboden, auf dem neue Macht aus der kompostierten Geschichte wächst.
* Nina Lucia Groß ist Doktorandin der Kunstgeschichte an der Universität Hamburg und verfasst ihre Dissertation zum Hearst Castle. Vorliegender Text ist ein Auszug aus ihrer Dissertation, die 2020 erscheinen wird.
(1) Austine Mc Donnell Hearst: The Horses of San Simeon, San Simeon 1985, S. 207–211
(2) Susan Stewart: On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Durham / London 1993, S. 135.
(3) Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt am Main 1994, S. 63–64.
(4) Ebd., S. 66.
(5) Ebd., S. 92.
(6) Ebd., S. 15.
(7) Ebd., S. 94.
(8) Ebd., S. 32.
(9) Ebd., S. 121.
(10) Augusta Owen Patterson, American Homes of To-day: Their Architectural Style. Their Environment. Their Characteristics, New York 1924, Bildteil: Garden Design.
(11) William Randolph Hearst an Julia Morgan, 24. April 1927.
(12) Ebd.
(13) Joseph Giaritta „A Tilesetter Recalls His Days at San Simeon“, in: William Payne: Oral History Project, San Simeon 1988.
(14) Siehe Peter Krieger: Visual Epidemics. Las Vegas Neo-Baroque in Mexico City, Mexico City 2017, S. 264-266.
(15) Thomas A. P. Leeuwen: The springboard in the pond: an intimate history oft he swimming pool, Cambridge 1998, S. 124.
(16) Ebd., S. 133.
(17) Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 40.
(18) Umberto Eco: Reise ins Reich der Hyperrealität, in: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen. Aus dem Italienischen von Burkhard Kroeber, München / Wien 1985, S. 67-70.
(19) Ebd., S. 69-70.
(20) Byung-Chul Han: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005, S. 42.
(21) Ebd., S. 59.
(22) Umberto Eco 1985, S. 96.
(23) Ebd.