Jochen Hiltmann am Fuß der Honigpumpe von Joseph Beuys

30-06-2021 / Alexander Rischer

Seit Jochen Hiltmanns Fotografien von der Aktion Anmerkungen zur Honigpumpe in Beuys’ Düsseldorfer Atelier erstmalig in der Zeitschrift Spuren veröffentlicht wurden, sind über dreißig Jahre vergangen. Nicht nur die sogenannte zeitgenössische Kunst, sondern vor allem auch die Fotografie hat sich seitdem wesentlich verändert, sowohl in technischer Hinsicht als auch was ihren Gebrauch und ihre Erscheinungsform betrifft.
Seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben viele Werke der alten, älteren und der jüngsten Geschichte der Fotografie Eingang in den Kanon der Kunst erhalten. Die Kategorien und Genrezuordnungen haben sich geändert: Ein Dokument konnte zunehmend als Gedicht angesehen und verstanden werden, die Begrifflichkeiten erweiterten sich (wer würde heute noch das Werk Eugène Atgets allein der Dokumentarfotografie zuordnen?). Und auch ein umgekehrtes Vorgehen bestätigte sich als möglich.
Das Initial für diesen Prozess war die documenta 6 (1977). Dort wurden in der Abteilung «150 Jahre Fotografie» historische und zeitgenössische Arbeiten im Kontext von Kunst und Medienkritik gezeigt. Parallel dazu, in der Rotunde des Fridericianums, hatte Beuys die Honigpumpe am Arbeitsplatz installiert, die «Große Honigpumpe» – eine Apparatur, die sich in mehrere Räume des Fridericianums mit Schläuchen und Steigleitungen bis in 18 Meter Höhe verzweigte, 150 Liter Honig in diesem Kreislaufsystem und im «Herz des Organismus», einem großen Zinkbehälter, 100 Kilo Margarine bewegte; als wesentlicher, vitaler Teil dieses Organismus war dabei Beuys’ tägliche persönliche Anwesenheit zu verstehen ebenso wie die ununterbrochene Gegenwart der «Free International University», des von ihm mitbegründeten offenen Diskussionsforums.

Das dritte Foto (Am Arbeitsplatz der Honigpumpe, Eine Fotoserie von Jochen Hiltmann für die Zeitschrift Spuren)

Wahrnehmung und Verständnis des Werks von Joseph Beuys und seiner signifikanten Person, als Künstler und Figur des öffentlichen Lebens, haben sich seit seinem Tod 1986 auf vielschichtige und auch widersprüchliche kontroverse Weise bis in die Gegenwart entwickelt. Das Werk, sobald es gezeigt wird, generiert stets aufs Neue suggestive, persönlich fassbare und zugleich kollektive Anknüpfungspunkte. Nichts erscheint als abgeschlossen, unzugänglich, obwohl es doch längst in den marktkompatiblen Kanon der Hohen Kunst eingemauert wurde. Wer sich, diese Mauern sprengend, auf den Fettstuhl setzt, versteht viel besser als mit den ideologisch bevorzugten zwei Augen alle Raumerfahrungsdimensionen dieser Arbeit, die sich also womöglich dem urmütterlichen Fettsteiß verdanken (oder dem, was man in seiner Entfremdung dafür hält, was wiederum den Erfahrungsgehalt im Kern nicht mindert). Dass es zwischen der Dominanz des Kopfes und dem vermeintlichen Gehorsam des Rumpfes etwas zu regeln und zu klären gibt, zeigen Jochen Hiltmanns Fotografien auf eindringliche Weise.

1998 hatte die Jury der Hamburger Griffelkunst-Vereinigung die Edition Erläuterung der Honigpumpe von Joseph Beuys in der Konzeption von Hiltmann einhellig angenommen. Sie war von Hiltmann mit Mappe, sechs Blättern und CD konzipiert worden. 1999 dann legte die Griffelkunst-Vereinigung gegen den Einspruch von Hiltmann eine großformatige Edition einiger Fotografien aus der Serie als «6 Offset-Drucke» ohne Mappe und CD vor. In Bildausschnitt und technischer Anmutung waren diese jedoch von den Erscheinungen der Bilder im Spuren-Heft deutlich entfernt — und von den intensiven, von Hiltmann selbst angefertigten Handabzügen aus der Spuren-Kassette, welche die ganze Serie, eine Tonaufzeichnung sowie ein Beiheft birgt, noch sehr viel weiter. Diese Drucke erscheinen wie vereinzelt — und tatsächlich, werden sie angeboten, dann zumeist nur als Einzelblatt, als hätten die Bilder nichts untereinander zu kommunizieren und keine thematisch zusammenhängende Folge darzustellen vermocht. Hiltmann hatte mir Anfang 2018 vorgeschlagen, neue Vergrößerungen von den Originalnegativen anzufertigen, und zwanzig Jahre nach Erscheinen der Griffelkunst-Edition wurde die Fotoserie, um zwei Aufnahmen erweitert, erstmalig im April 2019 in der Kleinen Gesellschaft für Kunst und Kultur in Hamburg im Zusammenhang ausgestellt.

Es ist diese Ausstellung, die zum einen den Anlass für die hier vorliegende Wiederveröffentlichung bildet; zum anderen ist es auch an der Zeit, diese Bilder wieder zugänglich zu machen, weil sie etwas über Beuys zu vermitteln mögen, was viele der bekannten Fotografien von und über ihn nicht können.
Als Akteur scheint Beuys in diesen Bildern von einer Rolle befreit zu sein, die ihm durch die Fotografie an anderer Stelle durchaus zugeschrieben wurde. Ein fotografisches Problem, das vielleicht nur mit Fotografie lösbar ist: Es gibt zwischen Jochen und Joseph eine Verbindung, die in einer gemeinsamen Sache gründet und eine vom Technischen der Kamera bedingte begriffsorientierte Distanznahme unterwandert oder umgeht. Die Fotoserie offenbart also in ihrer Substanz etwas, worum es in der Honigpumpe am Arbeitsplatz, ob groß, ob klein, geht: Austausch, Kommunikation, im Fluss sein, und insofern entfernen sich die Bilder nicht nur in ihrer Ästhetik, sondern auch in ihrem Narrativ von einer dokumentarisch-belegenden Festschreibung.

Die Arbeit an diesen Bildern, einem Satz neuer Abzüge, bestätigte mir diesen Eindruck: Ich bemerkte, dass die Bilder unterschwellige Verbindungen im Nicht-Sichtbaren eingingen und sich auf eine ungekannte Weise zusammenzufügen begannen. Sie erzeugten untereinander neue und fremde Zwischenzustände des realen Geschehens, also der Vorgänge und Handlungen der Honigpumpen-Aktion, wie sie bisher durch die Fotografien vermittelt wurden. Diese neuen Bilder erweiterten die real vorhandenen Fotografien auf wundersame Weise, der Prozess im Labor brachte es ganz natürlich zum Vorschein, wusch es gewissermaßen hervor.
Beim Vergrößern gilt dem Bildrand als der Grenze des Bildes besondere und doppelte Aufmerksamkeit: cachiert schon in der Kamera bei der Aufnahme zum einen, zum anderen durch das Maskenband des Vergrößerungsrahmens. Dieser zweite Schritt ist durchaus nicht zwingend, denn ebenso ließe sich das Negativ als Ganzes projizieren — hier ist es ein 6×6 cm-Quadrat — und der Abzug entsprechend gestalten. Ich hielt mich, nachdem ich andere Varianten geprüft hatte, schließlich an Hiltmanns damals sicherlich auch am Hochformat des Spuren-Magazins orientierte Maßgaben.
An der Bestimmtheit des begrenzenden Rahmens kann eine Festfügung ausgemacht werden: Ende des Bildes. Doch ist es auch dieser Schnitt, der einen Spalt ausbildet, Durchgänge zulässt — und den Raum des Bildes, den er eingrenzt, zugleich auch weitet. Diese empfindliche Zone wirkt bestimmend auf das Volumen des Bildes und bettet es in den umfassenderen, nicht sichtbaren Raum ein, der das zusammenhängende lebendige Beziehungsgeflecht der Bilder beherbergt — als würde dieser Spalt der Vorstellungskraft ermöglichen, zu diesem geheimen Raum hindurchzuschleichen, wie der Wanderer am Weltenrand auf jenem berühmten Stich aus Camille Flammarions Die Form des Himmels.
Den Sachen gesteht man ein der Idee des zweckdienlichen Objektes nicht gemäßes Eigenleben auch zu, man erwartet mitunter sogar, dass sie Ort und Sinnzusammenhang mühelos wechseln, sich dabei selbst unterwandern und dies sogar, wenn sie sich in bedeutungsvoller Deutlichkeit zeigen. Sie sind in Bewegung, im Fluss, machen sich zu ihrer eigenen Sache, die keine greif- und bestimmbare fixe Objektbegrenzung kennt. Sie können also in eigener Sache unterwegs sein und gehorchen uns dabei nicht mehr.
Von den Gegenständen, die in dieser Aktion, der «Kleinen Honigpumpe», im Einsatz sind, hat mich neben den drei archaisch anmutenden, von Beuys in Bronze abgegossenen Krügen, zunächst der unverkennbare Polyeder aus Dürers Melencolia I, dem dritten der Meisterstiche neben Ritter, Tod und Teufel und dem Heiligen Hieronymus im Gehäus, am stärksten angezogen. Als ein vielleicht faustgroßer Metallkörper, womöglich auch ein Bronzeguss, scheint er im Zusammenhang der Aktion und in der Fotoserie eine besondere Position einzunehmen; wie ein Omphalos, ein Nabelstein.
Dieses besondere Objekt, der «Melencolia-Polyeder», war zu Beginn meiner HfbK- Zeit bereits einmal in Erscheinung getreten, allerdings federleicht: aus Papier; in größtmöglicher Annäherung an das geheimnisvolle Konstrukt wurde er vor unseren Augen und unter Erläuterungen von unserem Grundklassenprofessor Jörg Möller aus einem alltäglichen A4-Bogen gefaltet. Möglicherweise hatte dafür das Titelfoto der Spuren-Ausgabe 30/31 im Dezember 1989 sogar den Anlass gegeben; der Zeitpunkt stimmt exakt überein (vgl. S. 64). Zwischen diesem erinnerten, leichten Papier- und dem schweren Metallmodell auf den Fotografien stellte sich während meiner Arbeit in der Dunkelkammer — die sich auch zwischen Metall und Papier abspielt — eine gedankliche Verbindung her.

Das dreizehnte Foto (Am Arbeitsplatz der Honigpumpe, Eine Fotoserie von Jochen Hiltmann für die Zeitschrift Spuren)

Als ich auf Spuren aufmerksam wurde, hatte die Zeitschrift schon einige Jahre wichtige Beiträge in Wort und Bild zum komplexen Diskurs der 1980er-Jahre beigetragen, das verdichtete Beieinander von Textbeiträgen und Fotoserien, deren Auftakt oftmals das eindrückliche Titelfoto war, ist ein besonderes Charakteristikum; vor meinem inneren Auge erscheint der Hahn von Jochen Lempert vom Titel der Nr. 44 (im Heft allerdings eine Fotoserie von Boris Nieslony), gefolgt von weiteren — wie ich fand: unkonventionellen — Fotografien, die mich beschäftigt und auch beeindruckt haben, ich selbst stand mit meiner Fotografie noch ganz am Anfang.
Wie jede neue Ausgabe der Zeitschrift Spuren von Jutta Hercher in der HfbK vor Ort auf einer großen Heidelberger-Druckmaschine gedruckt wurde, das hat sich mir bildhaft eingeprägt. Ich hatte den Eindruck, sie bewältige diesen zwiefachen Berg, hinter und vor der Maschine, ganz allein, und vermutlich war es auch wirklich so. Unter ihrer Fürsorge und ihrem Einsatz leitete das Klappern und Rauschen dieser imposanten Maschine stets das Erscheinen eines neuen Spuren-Heftes ein.

Die HfbK-Website gibt dazu nur die folgende Information: ‘Von 1983 bis 1994 erschienen die Spuren an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, herausgegeben von Karola Bloch. Verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift war Hans-Joachim Lenger.’
Antiquariat Querido in Düsseldorf, auch knapp, aber schon etwas informativer dazu: ‘45 in 40 Heften, 28×21 cm, ca. 2800 S., Broschur in 2 Papp-Schubern. Sehr gutes Exemplar. Vollständige Folge des von Karola Bloch herausgegebenen Magazins bis Heft 45 / 1995 (mehr nicht erschienen). Redaktion: Hans-Joachim Lenger, Jan Robert Bloch, Susanne Dudda, Jochen Hiltmann, Stephan Lohr, Ursula Pasero. Behandelt interdisziplinär Themen aus dem gesellschaftlichen Alltag, philosophische Ansätze sowie Kunst. Vorangegangen war den Spuren ein gleichnamiges Magazin, das 1980 mit dem 17ten Heft sein Erscheinen einstellen musste. Das hier neu herausgegebene Periodikum unter der Leitung von Karola Bloch erschien in Zusammenarbeit mit der Hochschule für bildende Künste, Hamburg, in insgesamt 45 Nummern. Vollständig recht selten. Die Hefte 40 und 41 liegen doppelt bei.’ 
Vom ebay-Verkäufer «willymitypsilon», der die Ausgabe 4 Götterdämmerung/Intensität der Musik von 1983 anbietet, erfährt man außerdem: ‘Karola Bloch (gebürtige Karola Piotrkowska; *22. Januar 1905 in Łódź; †31. Juli 1994 in Tübingen) war eine polnisch-deutsche Architektin und Publizistin, Kommunistin, Aktivistin, unter anderem in der Frauenbewegung, Ökologiebewegung und Antiatomkraftbewegung. 1934 heiratete sie den Philosophen Ernst Bloch (1885–1977).’ Antiquariat Sibylle Böhme: ‘Reich an Photos. 3 Hefte, Broschur, Umschlag mit Schwarz-Weiß-Photographie. Niveauvolle Themen-Zeitschrift: Götterdämmerung, Intensität der Musik; Gaukler, Verstellung, Lust, Subversion, Zeit-Zeichen-Terror. Außerdem: Rezensionen, Berichte, Kritiken.’
Inzwischen sind die Ausgaben 1 bis 44 über die HFBK-Website Archiv-der-Spuren als PDFs verfügbar, und die Listen der Artikel und Autoren vermitteln wohl am besten, was Spuren war und was diese zu verbinden und zu eröffnen vermochte.

Gunnar F. Gerlach, Chefredakteur der Spuren 1994/95, Professor für philosophische Ästhetik und Kunstwissenschaft, wissenschaftlich und inniglich verbunden mit dem Werk von Joseph Beuys und den Inspirationen durch Jochen Hiltmann, bin ich dankbar, mit mir einige Fragen zur Honigpumpen-Aktion in Beuys’ Atelier formuliert zu haben, die wir an Jochen Hiltmann übermittelten.

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Der hier vorliegende Text ist Bestandteil des Katalogs der Ausstellung Kleine Gesellschaft für Jochen Hiltmann am Fuß der Honigpumpe von Joseph Beuys, Kleine Gesellschaft für Kunst und Kultur, Hamburg, 2019. 

Der gesamte Katalog ist auf der Webseite des Materialverlags Hamburg erhältlich.
https://material-verlag.hfbk-hamburg.de/material/420-am-arbeitsplatz-der-honigpumpe