SEE INTO THE TREES

19-11-2015 / Alexander Rischer

Brunetto Latini, der Lehrer Dantes, schildert in „Il Tesoretto“, „Der Kleine Schatz“, eine Initiation: Vom Wege abgekommen gerät er in einen mysteriösen Wald, schließlich steht er vor einem Fels. Er schaut lebendige Wesen und Dinge in großer Zahl: Männer und Frauen, wilde, fremdartige Geschöpfe, Schlangen, Fische und Vögel in Fülle, Gräser, Früchte und Blumen, kostbares Geschmeide und Perlen, und vieles mehr, nicht Fassbares, das wirr umherschwirrt. Aber all diese Dinge gehorchen: sie entstehen und vergehen, sind in ständiger Veränderung, in steter Wandlung. In seiner Vision bemerkt er dann eine anmutige, faszinierende Frauengestalt, die all dieses Geschehen lenkt. In den Himmel greift sie, als wäre dieser ihr Schleier, sie lächelt, dann wiederum verzieht sie schmerzhaft das schöne Gesicht, erscheint plötzlich erschreckend und riesenhaft bis hin zur Formlosigkeit.
Er fasst schließlich den Mut, sie anzusprechen, und das ist die Schwelle, die es zu nehmen gilt. Mit einem Schritt aus der Sprachlosigkeit, gibt sie sich zu erkennen. Und sie ist die Natura. Und eröffnet ihm, dass sie vom großen Schöpfer, dessen Kraft Anfang und Ende nicht kennt und unvergänglich ist, wohl geschaffen wurde und in Bewegung gesetzt, daß ihre Geschöpfe aber, wieviel Lebenskraft sie ihnen auch verleihen mag, entstehen, erscheinen, und dann vergehen, entschwinden müssen. So offenbart sich ihm die Polarität von Stetigkeit und Wandelbarkeit als eine dynamische Ordnung, die Tages- und Nachtbewusstsein durchwirkt und sein Sein bestimmt. In jeden auch noch so vermeintlich kurzen Moment des persönlichen Erlebens und Erkennens wirkt die große, unumgreifbare universale Kurve der natürlichen Prozessualität. Inneres und Äußeres gehorchen ihr demütig – aber nicht ohne Wachheit und Kenntnis, Verständnis der Ordnung und einem Einverständnis mit dieser, so als wären sie Eins, ungetrennt, ihre Kräfte dabei potenzierend, mühelos, aber nicht übermütig.

 

Into another Garden, Jenny Schäfer, 2015


Jenny Schäfers künstlerische Arbeit kann als ein Beziehungsgeflecht betrachtet und verstanden werden, ein räumliches Gebilde, das seinen Bildern und Objekten ermöglicht, den ihnen angestammten festgefügten Platz auf der gedachten Zeitachse zu verlassen und sich zu bewegen, Zustände und Formen zu wechseln. Diese Transzendierung zeitlicher Fixierung vom Punkt in den Raum wirkt in die Stofflichkeit und die Erscheinung der Dinge hinein. Eine verborgene Zeitordnung und Wesensstruktur offenbart sich in den neuen Verbindungen. Reflexionen über gesellschaftliche Ordnungen, persönliche Erlebnisse, die Bedingungen der Wahrnehmung, den Gang der Geschichte und dessen Faktizitäten, führen zu Konstellationen deren verborgene Dynamik gewohnte und konventionelle Wertzuschreibungen und Verstehensmechanismen wie in einem alchemistischen Prozess zu einer Veränderbarkeit hinlenkt.
Unbestimmbarkeit ist dabei etwas Notwendiges, das auszuhalten in einem Zustand der Aktivität einem tieferen Verständnis von der Wirklichkeit der Natur subtil zuarbeitet. Ihr künstlerisches Tun ist Arbeit an einer Wirklichkeitserfahrung, die Unaussprechliches und Unabschließbares zu integrieren und zu halten sucht, ohne zuzudecken oder zu besänftigen. Sie thematisiert kritisch ein Einverständnis mit dem „Lauf der Welt“; sofern dieses Einverständnis als Konsens der Machtlosigkeit und unreflektierten Ergebenheit gelten kann, kraftlos und unentschieden. Es ist ihr wichtig, zu Entscheidungen zu kommen, eine Haltung zu generieren, die nicht notwendig ein abschließendes Ergebnis erzeugen muss, sondern es auch selbstbewusst aushält, mit leeren Händen dazustehen, und das aber wach und zugewandt. So lässt sich Jenny Schäfers Kunst als eine zutiefst philosophische verstehen, die sich nicht darin erschöpft, Zeichen und Sprache, die Arbeit an den Mitteilungen, bildlichen wie gesprochenen, als widersprüchlich und nicht auflösbar zu verstehen, sondern weiter hinaus will – und im selben Atemzug tiefer hinein. Eine Schule des Loslassens ist es wohl, die aber zugleich eine des Findens, Aufnehmens und Auflesens und folglich des Verstehens ist, was heißt, endlich die richtigen Fragen stellen zu können.
Der versteinerte Wald von Chemnitz wurde Mitte des 18. Jahrhunderts stückweise in einem Steinbruch entdeckt, zu einer Zeit, als mit der Industrialisierung auch die systematisch ausbeutende Zwecknutzung der Natur begann, die die ersten gravierenden Umweltschäden hervorrief – und die Romantik und ihre Naturkunde als Gegenbewegungen. Seine Verwandlung in Schmucksteine verhinderte die Musealisierung.
In Jenny Schäfers Installation „INTO ANOTHER GARDEN“, die sie in der Ausstellung 2015 präsentiert, ist die geheimnisvolle Gruppe verkieselter Stämme zum einen ein Vehikel deutscher Geschichte. Zum anderen aber manifestiert sich in der Versteinerung die Prozessualität von Zeit, und das ebenso in der Fotografie: Erkaltung, Verfestigung von Lava und Silber, Lavaumhüllung, Lichtumhüllung, Verkieselung und Versilberung, sie kristallisieren, konstatieren einen Status von Dauer; Konstanz gibt es für im Licht stehendes nur als Idee.