Das Verschwinden des Kinos – Teil 1: Die verlorene Zeit

21-07-2016 / Patrick Holzapfel

Wir leben in einer Zeit, in der es nicht nur sehr im Trend, sondern auch sehr einfach ist, den Verlust zu bedauern. Im Kino bedeutet das spätestens seit Susan Sontags Artikel The Decay of Cinema, der 1996 in der New York Times erschien: das Kino ist tot. Jean-Luc Godard, der seiner Zeit meist voraus war und ist, hatte das schon einige Jahrzehnte früher erklärt und ausgerechnet den vergangene Woche verstorbenen Abbas Kiarostami als letzten Filmemacher bezeichnet. Mit ihm, so Godard bevor er seine Meinung zum Iraner radikal änderte, würde das Kino enden.

"What Time Is It There?" von Tsai Ming-liang (Copyright: Wellspring Media)

 

Dieses Bedauern hat sich derart stark ins zeitgenössische Kino und die Kultur eingeschrieben, dass man fast auf jedem Festival ein leeres oder verlassenes Kino in den Filmen entdecken kann. Fotos verlassener Kinos oder der aussterbenden Gattung von Filmvorführern sind äußerst beliebt, egal ob online oder in großen Tageszeitungen. Unsere Kultur bewundert und bestaunt, was stirbt, statt es zu bekämpfen. Man kann von einer Ästhetisierung des Verlusts sprechen.

Dieser Text und seine nächste Woche folgende Fortsetzung, die sich theoretisch und anhand weniger Beispiele mit dem Überlebenskampf kleiner und großer Kinos in Deutschland und anderen Orten in Europa befassen, stehen im Schatten dieses Verlustgefühls. Doch wehmutige Anklagen sind genauso verklärend wie pseudo-optimistische Durchhalteparolen. Kulturpessimismus ist nur deshalb sexy, weil er besser scheint, als die Unsicherheit, die tatsächlich herrscht. Niemand weiß mit Sicherheit, in welcher Form Film überleben wird. Darauf findet man auch keine Antwort, wenn man in die Welt der Kinos absteigt. Man findet Hoffnungen und Zweifel, Ideen und Ratlosigkeit. Ob das Kino stirbt oder nicht, ist zunächst eine Frage der Definition von Kino. In diesem Fall wollen wir das Kino als Spielstätte ins Auge fassen. Wie wir sehen werden, bedeutet das nicht zwangsläufig den Raum des Kinos. Eher die Idee des Kinos.

Statistisch gesehen geht die Anzahl von Kinos in Deutschland seit einigen Jahren langsam, aber konstant bergab. Das Paradox, das dabei weltweit zu beobachten ist: die Einnahmen steigen. Vereinfacht kann man diese aufreißende Lücke mit erhöhten Preisen bei Publikumsmagneten erklären, dem Eventcharakter, mit dem sich das Kino wehrt. Der gesamte Rahmen eines Kinobesuchs soll dort aus viel mehr bestehen als dem Film. Luxuskino, Seriennächte oder Konzertübertragungen sind derzeitige Höhepunkte dieser Tendenz. Geht dabei etwas verloren? Was ist eigentlich das Kino?

Einer der es wissen muss, ist der deutsche Filmemacher Philipp Hartmann. Mit seinem Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe reiste der gebürtige Karlsruher in einer unvergleichlichen Aktion durch ganz Deutschland, um seinen Film in 66 Kinos zu präsentieren. Dabei traf Hartmann vor allem auf Programmkinos. Er dokumentierte seine Reise und arbeitet derzeit am Schnitt seines Films 66 Kinos (AT). Grundsätzlich hat er auf seinen Wegen durch die Kinolandschaft viel Hoffnung geschöpft. Es gebe eine ungeheure Vielfalt und eine wahnsinnige, idealistische Leidenschaft, die sich mit inspirierenden Überlebensstrategien über Wasser halten könne. Dies geschehe jedoch zum Teil unter enormer Selbstausbeutung. Außerdem könne man einen langsamen Einbruch der Vielfalt bemerken, was Multiplexe genau wie Programmkinos betreffen würde. Die Situation der jeweiligen Kinos würde auch immer an regionalen Faktoren hängen. In Studentenstädten gäbe es bessere Möglichkeiten und ein bildungsnäheres Publikum. An anderen Orten sehe es schwieriger aus, insbesondere, wenn es um die Programmierung von anspruchsvolleren Stoffen geht. In Hartmanns Film wird es viele solcher Bastionen des Kinobetriebs geben. Dabei wird auch viel über den Status quo und die Zukunft des Kinos gesprochen. Man merkt recht schnell, dass sich die Kinobetreiber Strategien zurechtgelegt haben. Manche wirken vielversprechender als andere.

[Eine nicht-verwendete, unbearbeitete Szene aus Philipp Hartmanns 66 Kinos (AT): Abriss des ehemaligen Skala-Kinos in Karslruhe Durlach]

Vielleicht ist das Kino gar kein Ort. Das Kino ist die Zeit, die du mit anderen an einem Ort in der Dunkelheit verbringst. Dort herrscht eine Art Gefangenschaft. Gefangen auf dem Sitz, den Bildern ausgeliefert. Keine Möglichkeit, schnell Facebook zu checken, keine Möglichkeit, den Film anzuhalten. Diese Zeit ist das, was verloren geht. Das beginnt natürlich bei den leuchtenden Displays im Kino und endet mit dem Streamen von Filmen zu Hause. Wenn von kinematographischen Qualitäten in amerikanischen Serien gesprochen wird, geht es meist um visuelles Spektakel, das sich inzwischen lange als nicht-essentiell für das Kino gemausert hat. Nein, es ist die Zeitlichkeit, die Dunkelheit, die Größe, die Verunsicherung, die Verführung, das Ausgeliefertsein, der Bruch. Nein, die Migration des Kinos aus den Kinosälen ist kein Ortswechsel, sie ist ein Zeitverlust. Argumentiert wird oft damit, dass der soziale Charakter überleben wird. Der Impuls von Menschen, das Haus zu verlassen, etwas zusammen zu unternehmen. Das mag stimmen. Aber dafür muss man nicht ins Kino gehen.

Ein führendes Schlagwort in den Diskussionen ist die Migration des Kinos. Die Jahrhundertstrategie, die das Kino aus dem Theater übernommen hat, wird abgelöst durch freiere Distributionsformen. Auch Hartmann begegnet solchen Fällen. Wandernde Leinwände, kommunale Kinos, Versammlungen, die nicht zwangsläufig immer am selben Ort stattfinden müssen. All das gilt aber nach wie vor als Ausnahme. Das Kino, das eigentlich mehr und mehr obsolet wird, mehr und mehr die Sache eines Museums wird, scheint noch in den Köpfen verankert. Im digitalen Zeitalter liegt hier jedoch eine Möglichkeit, die nicht zuletzt Lars Henrik Gass, den Hartmann auf seiner Reise auch getroffen hat, in seinem Buch Film und Kunst nach dem Kino darlegt. Das Kino ohne das Kino. Für Gass ist das Kino mehr als nur die Spielstätte. Es ist eine Form der Wahrnehmung, ein mentaler Raum. In diesem Raum herrscht die Dauer der Präsenz des Films. Man muss ihn wahrnehmen und zwar in der Art, die der Raum einem erlaubt. Wenn der Film diesen Raum verlässt, ist das für Gass kein Grund zur Trauer, sondern eine neue Möglichkeit. Dazu müssten sich jedoch Strukturen ändern. Denn die Verleihpolitik tut nach wie vor so, als würden Filme in wenigen, teuren Kopien auf Filmrollen angeliefert werden. Die Förderlandschaft unterstützt ein sterbendes, veraltetes Kinomodell. In den Köpfen einer zerfallenen Öffentlichkeit gibt es kaum Bereitschaft für frische Ideen mit alten Medien.

Doch ist es wirklich eine Alternative, aus den Kinos rauszugehen? Man denke an den Kunstmarkt und wie viele Filmemacher (beispielsweise Tsai Ming-liang oder Chantal Akerman) in Installationsarbeiten tätig werden. Die seit Jahren fast schon sinnfrei ansteigende Präsenz von bewegten Bildern in Kunstmuseen sprechen eine eigene Sprache. Zum Teil werden Filme dort so präsentiert, dass man sie ganz sicher nicht ansehen kann. Zudem explodiert der Festivalmarkt fast völlig. Es gibt derart viele Festivals, dass man schon lange nicht mehr von einer Sonderstellung für Film an diesen Orten sprechen kann. Es ist eine Kultur, in der das Zeigen zwar Konjunktur hat, aber dennoch an Gewicht verliert. Die eigentliche Bedeutung des Kinoapparats, der Ablauf einer Vorführung, die verschiedenen Elemente, die dazugehören, rücken in eine Sphäre der Vergangenheit. Darunter leiden letztlich die Filme, die Filmemacher und die Zuseher. Deren Wahrnehmung scheint das klassische Kinomodell in der Breite schon lange verlassen zu haben. Die Zeit, die es für das Kino braucht, gibt es kaum mehr. Womöglich gibt es schon lange kein Kino mehr, sondern nur die Idee davon, die man sich an ausgewählten Orten wie einen letzten Kick noch holen kann oder die man bereits vergessen hat. Man kann wohl konstatieren, dass der Gesellschaft und Kultur dadurch nichts verloren geht. Nur die Zeit, die wir damit verbringen, und die Art und Weise des Sehens und Hörens, die es nur an diesem Ort gegeben hat. Die Geschwindigkeit der (Bilder-)Welt hat das Kino schon lange verlassen. Besser wäre, man würde das Kino aufsuchen, um zu verlangsamen, und nicht wie Autoren früherer Tage vermuteten, um das Tempo der Welt widergespiegelt zu sehen. Nicht für den Rausch der Moderne, sondern für die Schönheit der Vergangenheit. Das Kino ist heute kein Medium der Geschwindigkeit, sondern eines der Verlangsamung. Man kann das nur schwer verarbeiten, dass ein Ort und ein Medium, das so stark vom "Jetzt" seiner Verführung lebt, plötzlich in eine Nostalgie, ein "Es ist gewesen" seines Überlebens rutscht. Das Kino als anachronistische Form der Bildwerdung und Bildwahrnehmung. Da filmische Bilder auch immer mit der Vergangenheit zusammenhängen, könnte man die Zeit, die mit dem Kino stirbt, vielleicht als die Zeit der Vergegenwärtigung bezeichnen. Statt Vergegenwärtigung herrscht in der heutigen Bildkultur Flüchtigkeit. Das trifft natürlich nicht auf alle Zuseher zu. Es ist gut für das Kino, dass es auch anachronistische Zuseher gibt. Außerdem ist das Kino trotzdem im "Jetzt" ... solange man es betritt.

 

Bild aus "Fantasma" von Lisandro Alonso (Copyright: Mantarraya Producciones)

 

Man merkt also, dass das Bedauern über den Verlust des Kinos immer einhergeht mit dem Bedauern einer bestimmten Art des Filmkonsums, womöglich die respektvollste, ehrenvollste, die es je gegeben hat. Eine Art des Zeigens, die das Träumen erlaubt. Jeder hat seine Erinnerungen an das Kino. Da Film diese Rolle in einer Welt der visuellen Überfüllung nicht mehr hat, muss das Kino diese Rolle streng genommen auch nicht mehr haben. Eines der Probleme ist, dass Film nach wie vor das Gedächtnis der Welt ist. Vielleicht nicht der Welt von heute, aber der Welt von gestern. Wie fatal es ist, wenn wir vergessen, was gestern war, zeigen politische Strömungen heute. Verantwortungslosigkeit und Flüchtigkeit gehen zu sehr parallel, um den Kurzschluss zu vermeiden. Das Gewicht eines Bildes nicht zu kennen, ist eine Katastrophe. Wenn Ted Sarandos von Netflix sagt, dass das Kino als kulturelle Institution ausgedient hat, dann liegt das im Interesse seines Kapitals. Nur sein Kapital dominiert die Kultur der Flüchtigkeit und Unsicherheit.

An einem Donnerstag begleiten wir den Kinobetreiber P. Er steht jeden Morgen auf und denkt zuerst an sein Kino. Heute will P. das Schild erneuern, auf dem der Name seines Kinos steht. "Es ist ein bisschen blass geworden", sagt er und beginnt den Tag mit einer Zigarette. Seine Frau macht das schon länger nicht mehr mit. "Vielleicht hat sie recht", meint P. und nimmt einen Zug, der für einige Stunden das einzige bleiben soll, was er zu sich nimmt. Dann lächelt er vielsagend und macht sich wenig später mit seiner grauen Jacke, die er selbst im Sommer nicht ablegt, auf den Weg. Es ist bewölkt und P. macht sich Sorgen, dass er das Schild gar nicht streichen kann im kleinen Biergarten, der zu seinem Kino gehört. "Anders hätte ich schon lange dicht machen müssen." Dieser Kreuzfinanzierung begegnet auch Hartmann auf seiner Kinoreise in circa der Hälfte der Programmkinos. Das Thalia Kino in Augsburg ist ein gutes Beispiel dafür. Dort werden wie an vielen Orten Kinovorführungen mit gastronomischen Angeboten verknüpft. Ganz anders sieht diese Verknüpfung in der Kinemathek in Karlsruhe aus. Dort bäckt die Kinobesitzerin selbst Muffins. Man merkt schnell, dass das Kino weit mehr ist, als die Zeit, die man dort verbringt.

P. glaubt nicht, dass das Kino sterben wird, er glaubt nur, dass sein Kino sterben wird. Es sei sehr anstrengend geworden, sagt er. Vielleicht läge es auch daran, dass er sich wegen Kniebeschwerden nur noch schwer fortbewegen könne. Der Tag mit P. entwickelt sich zu einem kaum zu entziffernden Auf und Ab. Mal zynische Verzweiflung, mal kindlicher Enthusiasmus. Zum Beispiel als sich die Wolken lockern und P. das Schild mit kräftiger roter Farbe streicht. Er sagt, dass er früher geglaubt habe, dass ein Schild Menschen ins Kino locken könnte. P. will nicht, dass sein Name oder sein Kino genannt werden. Das liegt hauptsächlich daran, dass er sich schämt, Blu-rays und zum Teil DVDs abzuspielen. Bei den Praktiken, die Filmarchive oder Filmmuseum inzwischen anwenden, ehrt es ihn sehr, dass er Schamgefühl dabei empfindet. Er könne es sich anders nicht mehr leisten. Film wäre für ihn eigentlich etwas anderes gewesen. An manchen Tagen mag er, dass man nur noch auf einen Knopf drücken müsse, an anderen weiß er gar nicht, was das soll. Manchmal würden an einem Tag nur drei oder vier Besucher kommen. Die Mietpreise steigen. Seit Jahren würden die Besucher weniger und die Erhaltungskosten mehr werden. Anna Nitsch, die seit 47 Jahren in Wien das älteste noch bespielte Kino der Welt, die Breitenseer Lichtspiele, betreut, kennt diese Probleme. Ihr Kino steht laut Medienberichten nun vor dem Aus, wenn bis zum Ende des Jahres nicht die von der staatlichen Förderung geforderte Summe an Spieltagen zusammenkommt. Welch Paradox, wenn es zu teuer ist, Filme zu zeigen, und man deshalb fürchten muss, keine Filme mehr zeigen zu können.

Einen 3D-Projektor hat P. auch. Er müsse ihn haben, sonst würde gar niemand mehr kommen, sagt er. In den Augen von P. erlischt bei solchen Sätzen das Kino. Die Träume, die damit verbunden sind, stecken so tief in ökonomischen Realitäten, dass sie ersticken müssen. Doch genau diese Träume, diese Verrückten, diese Fiktionen braucht das Kino, um zu überleben. Doch in der Welt des und der Kinos unterliegt die Fiktion dem Konsum. Das Schild nimmt Gestalt an. Es donnert. P. blickt nach oben, seine Stirn runzelt sich, fast schmunzelt er. Er habe es gewusst. Es beginnt zu tröpfeln. Ein Tropfen trifft die rote Farbe. Sie verschwimmt nicht, wird nur etwas blasser. P. stellt das Schild gegen die Wand, sodass der kleine Dachvorsprung es vor dem beginnenden Regen schützt. P. erzählt mir noch mehr. Meistens Dinge, die passiert sind. Was war, das ist der Stolz und was ist, das ist der Zynismus. Manchmal freut er sich ein wenig. Zum Beispiel auf kommende Woche. Dann gäbe es ein Freiluftkino. Da würden mehr Leute kommen. An diesem Tag kommen zwei Dutzend Menschen ins Kino. Sie sehen sich den neuen Ice Age an. P. mag den Film nicht besonders. Er muss ihn zeigen.

[Démolition d'un mur (1896) von Auguste und Louis Lumière]

Im nächsten Teil soll es vermehrt um die Chancen der Digitalisierung gehen und um Orte, an denen das Kino lebt.

 

Erstveröffentlichung unter www.kino-zeit.de