Die Stille im Getöse der Kunst - Thomas Piesbergen über die Ausstellung «noch lauter» von Utz Biesemann und Laura Sigrüner

26-10-2015 / Thomas Piesbergen

Eine Ausstellung im Einstellungsraum e.V. zum Jahresthema "Wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß."

Als Matthias Claudius seinem Sohn 1799 den Ratschlag gab, das Geräusch in den Gassen zu meiden, verstand er das „Geräusch“ als Metapher für fruchtloses Geschwätz in der Öffentlichkeit und lautstark ausgetragene ideologische Streitereien, aus denen, nach seinem Dafürhalten, nie etwas Gutes resultiere.

Geräusche dieser Art, ideologisch oder persönlich motivierte Selbstdarstellungen, gezielt gestreute Falschinformation, undurchdachte und nicht fundierte Behauptungen, populistisches Schwadronieren, rhetorische Schachzüge, die nur dazu dienen, das intellektuelle Territorium abzustecken oder eigene Pfründe zu verteidigen, Störungen der persönlichen Befindlichkeit, die verbal auf anderen, stellvertretenden Schlachtfeldern ausgetragen werden, das „Bullshitting“ der Tagespolitik, all die unzähligen frucht- und substanzlosen Varianten menschlicher Äußerungen, die nicht darum bemüht sind, aufrichtige Mitteilungen zu machen, finden wir auf jedem Feld des sozialen und kulturellen Lebens.

Und natürlich finden wir sie auch in der Kunst. Wie alle anderen Äußerungen des menschlichen Tuns, kann auch die Kunst nicht nur als die unabhängige Gesamtheit der hervorgebrachten „Werke“ betrachtet und verstanden werden, sondern nur in ihrer ganzen, vielschichtigen Kontextualität, in dem kommunikativen Gewebe, das sie umhüllt. Denn es ist nicht zu leugnen, dass die Rahmenbedingungen immer auch rückbezüglich auf die Werkprozesse und die Werke selbst einwirken.

Die Bezüge, in die die Kunst eingebunden ist, und die auch immer ihren Niederschlag im Fluidum der Kommunikation über und um sie haben, reichen von der hehren Welt der Ideen und des mal mehr, mal weniger der Mode unterworfenen Diskurses bis hin zu den profanen und unerbittlichen Niederungen der ökonomischem Notwendigkeiten, denen sich der Künstler beugen muss, und sie sind in allen Lebensbereichen fest verankert, die sich zwischen diesen Extremen entfalten.

Und wie alle Netze von Bezüglichkeiten verdichten sich auch diese Kontexte durch das fortdauernde Handeln aller Beteiligten zu Strukturen, die wiederum ihre eigenen Symbolsysteme hervorbringen und sich wiederum durch diese Systeme ordnen und reproduzieren. Sowenig die Kunst hier eine Ausnahme bildet, sowenig bildet sie eine Ausnahme, wenn es um die Herausbildung von Hierarchien in diesen Strukturen geht und um die Nutzung der damit verknüpften kommunikativen Symbolsysteme zum Erhalt und Ausbau von Machtpositionen innerhalb dieser Hierarchien.

Es handelt sich leider um eine traurige aber unleugbare Tatsache, dass zwar die Kunst selbst Freiheiten bietet und den Bereich der Freiheit wenigstens auf der Informationsebene stetig erweitert. Die gesellschaftliche Nische hingegen, die man der Kunst gewährt und in die sie wie in ein Korsett eingeschnürt wird, ist von gefestigten hierarchischen Strukturen und institutionalisierter Deutungshoheit, von Modeströmungen und finanziellen Interessen geprägt.
Kaum ein Künstler der nicht unter diesen Strukturen leidet und den nicht das Schlagwort „Selbstausbeutung“ auf ökonomischer oder moralischer Ebene durch den Alltag begleitet.

Und natürlich werden diese Strukturen permanent rekapituliert und gefestigt durch ununterbrochenes „Geräusch auf der Gassen“.

Kunstsammler und Galerien preisen die Bedeutung ihrer Künstler an, nicht selten nur um den finanziellen Wert ihrer Werke und das eigene Standing auf dem Markt zu steigern; Journalisten und Professoren halten mit einer einschüchternder Selbstsicherheit Gericht über deren künstlerischen Wert, oft nur um ihre eigene Machtposition der Deutungshoheit zu festigen; Künstler unterwerfen sich mal mehr, mal weniger freiwillig dem Zwang sozialer Integration in die Kreise von Sammlern, Galeristen, Kuratoren und Kritikern, passen sich deren Konventionen der Konversation an und tragen so zu einem Erhalt dieser Strukturen bei.

Schließlich gibt es am unteren Ende der Hierarchie der Kunstwelt noch den Betrachter, der sich in dem Licht der Kunst und des Kunstdiskurses sonnen darf; und indem er seine Aufmerksamkeit auf das lenkt, was ihm als künstlerisch wertvoll vorgesetzt wird und er lernt es in einer Weise zu interpretieren und darüber zu sprechen, die als die einzig angemessene und stimmige postuliert wurde, und er so die Deutungshoheit der Kunstfunktionäre akzeptiert, bestätigt und sanktioniert er das gesamte System, das sich um den schlichten kreativen Akt herum gebildet hat.

Und über alles legt sich, wie es John Banville recht sarkastisch in seinem Roman Der Unberührbare formuliert, „jenes leise Selbstbeweihräucherungsgetöse, das von Natur aus die kollektive Stimme der Trinker am Busen der Kunst ist.“

Es ist ein Privileg junger Künstler, die noch im Begriff sind, diese Strukturen kennen zu lernen und die sich bisher weder eine feste Strategie zum Selbstschutz zurechtgelegt haben, noch von den Strukturen korrumpiert worden sind, sich auf eine kritische und frische Art und Weise mit ihnen auseinander zu setzen.

 

Biesemann / Sigrüner, "Noch Lauter", 2015

 

Als sich Laura Sigrüner und Utz Biesemann überlegten, gemeinsam auszustellen, waren es zunächst  Aspekte des Materials und gewisser Motive in ihren Werken, die ihnen das Gefühl gaben, hier käme etwas zusammen, was miteinander in Dialog treten kann. So verweisen die Arbeiten beider auf die Tierwelt, die sie als einen Gegenpol zur lärmigen Welt der Menschen verstehen; und es finden in den Arbeiten beider Vogelfedern Verwendung.

Doch jenseits dieser oberflächlichen Schnittpunkte möchte ich eine weitere, viel tiefergehende Gemeinsamkeit beider Werkkomplexe unterstellen, nämlich genau jene Auseinandersetzung mit dem Getöse der Kunstwelt und die Suche nach einem autarken Selbstverständnis, nach der Möglichkeit, sich davon frei zu machen und zu einer unabhängigen Haltung zu finden; die Suche nach der Stille und dem eigenen Ton im Getöse der Kunst - oder der Versuch, dieses Getöse sogar zu übertönen.

Die Strategie, der Laura Sigrüner folgt, ist die minimalistische Rückbezüglichkeit des Werkes. Was geschieht, wenn ein Kunstwerk auf sich selbst verweist, sich selbst befragt, sich von dem Betrachter und von dem ganzen, es umgebenden Kontext abwendet?
In vorangegangenen Werken verwirklichte Laura Sigrüner diese Rückbezüglichkeit häufig mit Licht, mit Raumsituationen oder elektrischen Schaltungen, so z.B. mit Lampen, die nichts anderes als ihre eigene Stromquelle oder ihren eigenen Schalter beleuchten.

In ihrer Arbeit zum BA setzte sich Laura Sigrüner intensiv mit den Zusammenhängen von Bildhauerei und Fliegenfischen auseinander und fand darüber zu einem neuen formalen Element: der Angel.
Was angelt die Angel, wenn weder Fisch noch Angler da sind, wenn der Köder nur den Köder ködern kann? Das formale Ergebnis ist die in sich zurückgebogenen Angel, die sich selbst am Haken hat. Doch im Gegensatz zur sprichwörtlichen Katze, die sich selbst in den Schwanz beißt, ist dieser Rückbezug nicht irrelevant und wirkungslos, denn das, was entsteht, ist eine Form, die zwar erstarrt und regungslos scheint, aber tatsächlich unter höchster Spannung steht.

Die Objekte scheinen sich nicht mitteilen zu wollen, scheinen in sich selbst zu ruhen, doch jeder Betrachter mit nur ein wenig Vorstellungsvermögen nimmt die Spannung, die Energie wahr, die in ihnen schlummert, die sicherlich einen Ton hervorbringt, wenn man an der Sehne zupft, oder die, wenn sie durch ein Reißen der Angelsehne freigesetzt wird, einen für den Betrachter sehr empfindlichen Effekt haben könnte.

 

Biesemann / Sigrüner, "Noch Lauter", 2015

 

So, wie diese Arbeiten auf sich selbst bezogen sind, ist auch der Betrachter ihnen gegenüber auf sich selbst zurückgeworfen. Einerseits sind sie nach innen gewandt und treten in keinen offenen Dialog mit dem Betrachter, der vor ihnen steht wie vor etwas, das schläft und träumt, dessen Traumbilder er nicht erraten kann. Andererseits zitieren sie nicht aus bereits bekannten Bild- und Symbolwelten und bieten dem Betrachter keine einfache Möglichkeit, sie in sein „Kunst“-Bezugssystem zu integrieren.
Die Kunst genügt sich selbst und gewinnt, durch totale Reduktion und Selbstreferenz eine ungeahnte Kraft.

Der Weg, den Utz Biesemann gewählt hat, verhält sich dazu komplementär: Er untersucht mit seinen Arbeiten unter anderem das hierarchisch-lineare Verhältnis zwischen Künstler und Betrachter und versucht es aufzulösen. Gleichzeitig ist er darum bemüht eine in seinem Arbeitsumfeld von den Autoritäten der Kunsterzeugung ausgegebene Devise zu unterminieren, nämlich sich im Ausdruck zu beschränken und auf eine gebündelte Bewegung seines Werkes hinzuarbeiten.

Der im Einstellungsraum gezeigten Arbeit geht ein Projekt voraus, in dem er Bekannte bat, ihm 3 kunstfremde Objekte zu geben, aus denen er im Bricollage-Verfahren Objekte bastelte oder Performances realisierte. Zentraler Gedanke war, nicht den Betrachter, sondern den Künstler in die Position zu versetzen, Dinge deuten zu müssen und Bezüge herzustellen und diesen Prozess transparent zu machen. Einzelne Elemente aus diesem Werkkomplex finden sich auch in der Installation „noch lauter“ wieder.

Neben der Abkehr von der hierarchischen Zuweisung der Interpretationspflicht, liegt Biesemann auch jeweils daran, aus dem formal geschlossenen Zusammenhang eines Werks auszubrechen. Das erreicht er, in dem er seinen Arbeiten Details hinzufügt, deren mögliche inhaltliche Bedeutung ihm selbst ganz bewußt völlig unklar sein kann. Diese Details haben einerseits die Funktion, den Betrachter zu irritieren und sollen die Möglichkeit einer geschlossenen Interpretation unterwandern.
Andererseits will Biesemann in diesem Zusammenhang die Kunst aus der Kontrolle des Künstler entlassen, in dem er eine Komplexität provoziert, die eine ganze Bandbreite an Betrachtungsweisen und Bezugnahmen ermöglicht, die sich jenseits einer ursprünglich intendierten Sinnhaftigkeit und Ausdrucksabsicht entfalten sollen. Er selbst spricht gerne von einem „Bewußtsein, rechts oberhalb des Normalbewußtseins“, das er bestenfalls auf diesem Wege wecken möchte. Dabei wählt er auch gerne Details, die auf einen politischen Zusammenhang jenseits der Kunst verweisen.

Die Absicht, die dem Betrachter gegenüber hierarchisch lineare und erhabene Position dessen, was Kunst ist, zu unterwandern, findet auch formal ihre Entsprechung: Der rosafarbene, von Künstlern wie Rilke oder Polke in den Stand des Kunstobjekts erhobene, höchst erhabene Flamingo, der auch auf der Einladungspostkarte zu sehen ist, tritt nicht selbst in Erscheinung, sondern nur seine Nester. Und worin brütet er seine Eier aus? In Nestern aus seiner eigenen Kacke. Zitat Biesemann: „Erhabene Kunst - und dann sowas!“
Auf diese Nester, die von Jahr zu Jahr wachsen, projiziert Biesemann Videos, die üblicherweise nur auf schieren Monitoren oder Projektionsflächen gezeigt werden, oder er pflanzt kleine Bildhalter darauf, die den Betrachter nötigen, sich zu bücken. Durch diese von der Installation erzwungene Haltung und durch die Choreographie, zu der der Betrachter genötigt ist, während er sich einen Weg durch den Parcour der Flamingonester sucht, wird der Betrachter selbst zu einem Teil des Werkes.

 

Biesemann / Sigrüner, "Noch Lauter", 2015

 

Aber nicht nur der Betrachter wird in das Gewebe der Installation gezogen, auch der Künstler selbst ist darin integriert in Form eines Selbstportraits: auf einem Photo von einer anderen, ursprünglich unabhängigen Performance, gedruckt auf das Malmedium Leinwand, aufgezogen auf einen Liegestuhl, sehen wir den Künstler in der Maskerade eines urbanen Voodoo-Priesters. Von diesem Liegestuhl aus betrachtet er sein Werk, von dem er zuvor selbst ein Teil geworden ist.
Der Liegestuhl verlockt zudem den Betrachter, sich in die Position des Künstlers bei der rückbezüglichen Befragung und Betrachtung seines eigenen Werkes zu versetzen, und in dem ungezügelten Durcheinander der Bezüglichkeiten der Objekte im Raum eine von vielen offenen Deutungsmöglichkeiten herauszulesen.

So finden Sigrüner und Biesemann, einerseits durch den kontemplativen Minimalismus, andererseits durch eine provozierende und sich verselbständigende Komplexität und Vieldeutigkeit, und in beiden Fällen durch eine betonte Selbstreferenz ihrer Werke zu einer eigenen Stimme,  einer eigenen Stille inmitten des Geräusches auf den Gassen der Kunstwelt.

ⓒ Dr. Thomas Piesbergen / VGWort, September 2015